Stiftung Schloss Friedenstein Gotha: Lotte Reimers - Ein Leben für die Keramik

Lotte Reimers, Foto: Ralf Ziegler

Im Oktober 2021 schreibt die Deidesheimer Keramikkünstlerin Lotte Reimers (geb. 1932) im Vorwort ihres „Bilderbogen 2020", der – wie seit 2009 in jährlicher Folge – eine Auswahl ihrer neuen Keramiken vorstellt: „...vielleicht eine Art Abschiedsgruß. Obgleich ich immer wieder ‚keramische Gelüste' habe und die Hoffnung auf ein paar neue ‚Töpfe' nicht aufgebe."

Einige große, mittelgroße und 90 kleine Gefäße hat die gesundheitlich beeinträchtigte Künstlerin 2020 und 2021 von Hand gebaut und mit ihren selbst bereiteten Glasuren versehen. Bestimmt sind die 90 kleinen, in Form und Glasurbild variierten Gefäße für eine Verkaufsaktion anlässlich ihres 90. Geburtstages im April zu Gunsten eines Museums. Diese Aktion reiht sich in eine Kette ähnlicher Aktivitäten ein, in denen die Keramikerin ihr Schaffen, ihre Kreativität, geistige und materielle Ressourcen der Förderung der keramischen und darüber hinaus der gesamten bildenden Kunst widmet.

1951, mit dem Besuch der Ausstellung „Moderne Keramik" an ihrem Schulort Bad Gandersheim und der Begegnung mit dem Initiator der Ausstellung, Jakob Wilhelm Hinder (1901 – 1976), brach die Keramik in das Leben der neunzehnjährigen Abiturientin ein und sollte sie nie mehr loslassen. Sie zog ihre Anmeldung zum Kunststudium zurück und schloss sich Hinders Ausstellungstournee als Gehilfin an.

Jakob Wilhelm Hinders Engagement für die Keramik richtete sich ursprünglich auf die Unterstützung Marburger Töpfer, deren Existenz in den 1920er-Jahren durch die Konkurrenz der industriellen Massenproduktion vernichtet zu werden drohte. Mit erfolgreichen Verkaufsausstellungen ihrer Produkte konnte er manchen Handwerks­betrieb vor dem Ruin retten. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er seine Ausstellungstournee wieder auf und wandte sich nun mehr und mehr der künstlerischen Unikat­keramik zu. Sein Gespür für dieses Genre, für formale Qualität, seine Überzeugungskraft und sein kaufmännisches Talent machten ihn zum Mentor und Förderer der Keramiker und Keramikerinnen und zum Partner und Mittelpunkt einer wachsenden Sammlerschar.

Zehn Jahre wird Lotte Reimers ihn auf dieser Wanderschaft durch westdeutsche Städte begleiten. Mit ihrer Begeisterung, ihrer raschen Auffassungsgabe, den breit gefächerten Interessen und ihrem Blick für Qualität dringt sie ganz tief in die Materie ein und wird seine ebenbürtige Mitarbeiterin. Es sind Jahre materieller Entbehrungen, aber reich an intellektuellen und künstlerischen Erfahrungen.

Der Wunsch und die Suche nach einem festen Wirkungsort, um dort ein „Museum für moderne Keramik" aufzubauen, führen sie 1961 ins pfälzische Deidesheim. Sie erwerben ein ausbaufähiges Anwesen, das sie in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden und überregional wirkenden Zentrum zeitgenössischer Keramik machen. Nun kann Lotte Reimers auch ihren langgehegten, brennenden Wunsch verwirklichen, selbst Keramiken zu machen und die „Töpfe", die sie während der Wanderschaft im Kopf und auf dem Papier entwarf, in Ton zu formen. Sie geht dabei ganz eigene Wege, unbeeinflusst von keramischen Zeitströmungen und Vorbildern. Sie will „ursprünglich" arbeiten, baut ihre kraftvollen und schweren Gefäße von Hand auf und versieht sie mit Glasuren, die sie aus Reb- und Obstbaumaschen, Erden, Eierschalen und Gesteinsmehl selbst bereitet. Ihre unkonventionellen Arbeiten befremden zunächst, aber schon bald macht sie sich mit ihrer eigenen Form- und Materialsprache einen Namen und vertritt 1972/73, gemeinsam mit Walter Popp, Beate Kuhn, Karl und Ursula Scheid, die zeitgenössische deutsche Keramik in einer Ausstellung im Museum Boymans van Beuningen in Rotterdam.

Blick in die Ausstellung, im Vordergrund: Christiane Haase, ohne Titel, Foto:  Stiftung Schloss Friedenstein Gotha

Hinders plötzlicher Tod 1976 gefährdet den Fortbestand des Museums und besonders seinen Kernbestand, eine umfangreiche Sammlung exemplarischer und unverkäuflicher Keramiken, die die Entwicklung der künstlerischen Keramik in Westdeutschland seit den 1950er-Jahren dokumentieren. Lotte Reimers kann den Hauptbestand retten und 1977 das Museum in einem alten Winzerhaus in Deidesheim wieder eröffnen. Sechzehn Jahre lang führt sie allein das Museum mit Galeriebetrieb, veranstaltet jährlich bis zu acht Sonderausstellungen mit Vorträgen, Führungen und Verkauf und baut abends und nachts in ihrer kleinen Werkstatt ihre Keramiken. Bis ihre Kräfte erschöpft sind und Krankheit sie zum Innehalten zwingt. 1993 schließt das Museum, und das Land Rheinland-Pfalz erwirbt die Museumssammlung mit der Verpflichtung, sie für die Öffentlichkeit zu erhalten. Heute befinden sich die 1.587 Keramiken als „Sammlung Hinder / Reimers" im Schloss Villa Ludwigshöhe in Edenkoben unter der Obhut der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz.

Von der Museumsarbeit entlastet, beschränkt sich Lotte Reimers keineswegs auf ihr eigenes keramisches Schaffen. Als leidenschaftliche Kunstvermittlerin, vernetzt mit Künstlern, Galerien und Museen, entwickelt sie neue Aktivitäten. 1996 errichtet sie die „Lotte Reimers-Stiftung" zur Förderung der keramischen Kunst, die Ausstellungen, Publikationen und Ankäufe für Museen unterstützt und bisher sieben Keramiker und Keramikerinnen mit dem „Preis der Lotte Reimers-Stiftung" ausgezeichnet hat. Auch als Sammlerin war Lotte Reimers nach wie vor mit großem Engagement und Einsatz aktiv, nicht nur auf dem Gebiet der Keramik, sondern auf dem gesamten Feld der bildenden Kunst.

Margret Weise, Figur mit Spiegel, Foto:  Stiftung Schloss Friedenstein Gotha

Eine über Jahre wachsende Keramiksammlung füllt die nach der Museumsschließung leer gewordenen Vitrinen und Regale in den Räumen des Winzerhauses. Lag der Schwerpunkt der früheren Museumssammlung vor allem auf der deutschen Keramik, weitet sich nun der keramische Horizont. Als Lotte Reimers diese Sammlung 2018 der Stiftung Schloss Friedenstein in Gotha übereignet, umfasst sie 301 Arbeiten von 115 Keramikern und Keramikerinnen aus 21 Ländern. Verbunden war die Schenkung mit einer umfangreichen Publikation und 2019/20 der Ausstellung „Keramische Horizonte" im Herzoglichen Museum in Gotha. Ihr besonderes Anliegen bei dieser Schenkung war es, die historischen Gothaer Sammlungen mit gegenwärtigem Kunstschaffen zu verbinden.

Auch die über Jahrzehnte erworbene Sammlung angewandter Kunst aus vielerlei Gewerken, ebenfalls dokumentiert in einem umfangreichen Katalog, übergibt sie 2020 dem Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern, das die Schenkung in der Ausstellung „Die Sprache der Dinge" präsentiert. An ihrem 90. Geburtstag kann Lotte Reimers auf sieben Jahrzehnte Engagement für die Kunst zurückblicken in dem Wissen, Bleibendes bewirkt zu haben.

Marlene Jochem | Autorin des Sammlungskatalogs
„Keramische Horizonte"


Marlene Jochem
Keramische Horizonte. Die Lotte Reimers-Stiftung auf Schloss Friedenstein in Gotha
dt./engl., 336 Seiten, 616 Abb., Stuttgart 2019, 48 €
ISBN 978-3-89790-520-7

AsKI kultur leben 1/2022

 

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