Spiegel der Welt: Die Bibliotheca Bodmeriana zu Gast im Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv in Marbach

Martin Bodmer  Genf 1959, Foto: Jean Mohr

Zum ersten Mal zeigt die Bibliotheca Bodmeriana eine Auswahl aus ihren unvergleichlich reichen Beständen außerhalb des anmutigen Ensembles zweier neobarocker Gebäude, die Martin Bodmer 1951 an seinem Wohnsitz in Cologny nordöstlich von Genf hoch über dem See zur Aufbewahrung seiner Bücher und Kunstgegenstände hat errichten lassen.

Im Jahr der 100. Wiederkehr des Geburtstages ihres Gründers begannen in der Bibliotheca Bodmeriana umfangreiche Baumaßnahmen nach Plänen des bekannten Tessiner Architekten Mario Botta zur Erweiterung der Magazin- und Ausstellungsflächen. Gemeinsam nutzten die Fondation Martin Bodmer, die Stiftung Museum Bärengasse Zürich und das Schiller-Nationalmuseum die Ausnahmesituation des Umbaus zur öffentlichen Präsentation der berühmten Sammlung im Rahmen einer Ausstellung, zu der das Marbacher Haus den Katalog beisteuerte, dessen Herstellung in den bewährten Händen von Friedrich Pfäfflin gelegen hat.

Am 13. November 1899 als Spross einer wohlhabenden alten Zürcher Familie geboren, legte Martin Bodmer den Grundstein zu seiner "Bibliothek der Weltliteratur" in den 20er-Jahren. Nach dem Studium der Literatur, Philosophie und Musik stiftete Bodmer bereits 1921 den Gottfried-Keller-Preis, an dessen Vergabe er sich selbst zum letzten Mal 1969 mit der Wahl Golo Manns beteiligte. 1940 wurde Bodmer Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, dem er von 1946 bis 1964 als Vizepräsident diente. Die langfristige Aufgabe, in der er sich auch die Versorgung der Kriegsgefangenen mit Büchern angelegen sein ließ, veranlasste ihn zur Übersiedlung nach Genf und zur Verlagerung seiner Sammlung nach Cologny.

Johannes-Evangelium, Älteste Handschrift, Ende 2. Jh. n.Chr., Bibliotheca Bodmeriana, Cologny (Genf), Foto: Bernd Hoffmann

Als "König der Bibliophilen" für seine Leidenschaft und Kompetenz respektiert, war er wegen seines nüchternen Sinnes für die ökonomische Seite des Sammelns gefürchtet. Als in der Weltwirtschaftskrise auch seine reichsten Konkurrenten auf Ankäufe verzichten mussten, nutzte Bodmer die Stärke des Schweizer Franken und erwarb Kostbarkeit um Kostbarkeit, u. a. von den bolschewistischen Liquidatoren des zaristischen Kunstbesitzes eine 42-zeilige Gutenberg-Bibel. "Was die Grimm'sche Handschrift der Märchen betrifft, so gehört sie durchaus in meine Sammlung. Aber das ist kein Grund für mich, einen 'Märchenpreis' zu zahlen", teilte er einem amerikanischen Händler einmal mit, als dieser über die Presse eine Phantasietaxe zu etablieren versuchte. Bodmer konnte warten - und die Handschrift ist schließlich doch in seinen Besitz gelangt, aber zu einem Preis, den er bestimmte. Nichts charakterisiert die haushälterische Sparsamkeit des Schweizers besser als seine Korrespondenz: Order an die Antiquare erteilte er auf  handgeschriebenen Postkarten, und wenn einmal ein typierter Brief vonnöten war, krümmte sich der hoch aufgeschossene Mann selbst über die Maschine und tippte eigenhändig.

Gutenbergbibel um 1452-1454, Das erste mit beweglichen Lettern gedruckte Buch, Bibliotheca Bodmeriana, Cologny (Genf), Foto: Bernd Hoffmann

Auf rund 150.000 Objekte wuchs der Bestand bis zum Tod des Sammlers im Jahre 1971: sumerische Tontafeln, babylonische Siegelzylinder, ägyptische Totenbücher, griechische Papyri, mittelalterliche Buchmanuskripte, Inkunabeln, Erstausgaben, Autographen und Partituren. Indes wollte Bodmer mit seiner "Bibliothek der Weltliteratur" keine Schatzkammer isolierter Zimelien errichten, sondern die geistigen Wege der Menschheit in solchen materiellen Zeugnissen sichtbar machen, die dem Ursprung einer Idee oder eines Werks so nahe wie möglich stehen, zugleich aber auch den historischen Kontext ihrer Entstehung veranschaulichen. Diesem Zweck dienen zahlreiche Zeugnisse aus Politik, Wissenschaft und Philosophie: Luthers Thesen, Briefe Karls V., handschriftliche Ordres des Sonnenkönigs, die Erstveröffentlichung der Deklaration der Menschenrechte und des Kommunistischen Manifests, einen Redeentwurf Napoleons, der Erstdruck von Galileis "Dialogo" über die beiden Weltsysteme (1632), ein Exemplar von Newtons "Principia mathematica" mit zahlreichen Anmerkungen von der Hand seines Gegenspielers Leibniz, ein Manuskript zu Darwins "Descent of Man", die Handexemplare der verschiedenen Auflagen von Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung" mit den Korrekturen des Autors, ein "Antichrist" gezeichnetes Briefmanifest Nietzsches aus den späten Lebensjahren der Umnachtung. Und so schier endlos weiter.

Sandro Botticelli (1444-1510) , Dante Alighieri, Öl auf Leinwand, Sammlung Martin Bodmer, Privatbesitz, Foto: Bernd Hoffmann

Bodmer wusste, dass Weltliteratur kein Gegenstand der Wissenschaft sein kann, sondern aus der individuellen Passion - sei es des Lesers oder eben des Sammlers - entworfen werden muss, so wie ein Architekt ein monumentales Bauwerk konzipiert. Mit entschiedenem Mut zur Wertung hat er an seinem Entwurf einer auf den "fünf Pfeilern" Homer, Bibel, Dante, Shakespeare und Goethe gegründeten Weltliteratur festgehalten. Über den "cinq piliers" - Handschriften zur "Ilias", Bibelpapyri, dem Codex Severoli zur "Divina Commedia" und Botticellis berühmtem Porträt des Florentiner Dichters, einem Shakespeare-Bestand mit allen vier Folio-Gesamtausgaben und 55 Quartausgaben und einer auf die Faust-Thematik konzentrierten Goethe-Sammlung - erhebt sich freilich eine ausgreifende Konstruktion von Schwindel erregender Imposanz: Chaucers "Canterbury Tales" im originalen Klostereinband, die Handschriften von Lessings "Nathan" in der Prosafassung, Stifters "Witiko", Flauberts "Madame Bovary", Zolas "Docteur Pascal", Prousts "A l'ombre des jeunes filles en fleur", Thomas Manns "Lotte in Weimar" usw.

William Shakespeare, Comedies, Histories and Tragedies, London 1623, Bibliotheca Bodmeriana, Cologny (Genf), Foto: Bernd Hoffmann

Dazu die Tausende griechischer und koptischer Papyri. Sie überliefern biblische und patristische Texte, so die älteste erhaltene Niederschrift des Johannes-Evangeliums, bergen aber als größte Überraschung auch zwei fast vollständige Stücke - darunter der "Dyskolos" ("Griesgram") des Dichters Menander, der bald nach dem Tod Alexanders des Großen die neue attische Komödie begründete. Die Werke dieses genialen Theaterautors - ihm verdankt das Lustspiel die nützlichen Erfindungen des verhinderten Liebespaares und der Charaktertypen des geizigen Alten, des Misanthropen usw. - waren bis in die fünfziger Jahre nur in den Reflexen der römischen Komödien von Plautus und Terenz greifbar. Die originalen Texte galten als unwiederbringlich verloren. Ohne den - auf dem Umweg über die Römer vermittelten - Menander kein "L'avare" Molières, keine "Kassette" Sternheims, kein "Schwieriger" Hofmannsthals (von dem die Bodmeriana wichtigste Werkmanuskripte verwahrt), auch keine daily soap opera!

Aus der großen Sammlung von Musikautographen - u. a. von Mozart, Beethoven, Schubert, Wagner - seien der Codex des Graduale von Santa Cecilia in Trastevere aus dem Jahre 1071 und die autographe Partitur des bis heute ungedruckten Oratoriums "Il Martirio di Santa Cecilia" (1708) von Alessandro Scarlatti hervorgehoben, dessen Aufführung im Rahmen der Zürcher Festspiele am 5. Juli dieses Jahres einen Zugewinn für das gegenwärtige Repertoire an Barockmusik bedeutet.

Prof. Dr. Hans-Albrecht Koch,
 Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Bremen
Honorarprofessor für Buch- und Bibliothekswissenschaft,
Humboldt-Universität zu Berlin


Spiegel der Welt. Handschriften und Bücher aus drei Jahrtausenden.
Ausstellung und Katalog: Martin Bircher in Zusammenarbeit mit Elisabeth Macheret-van Daele und Hans-Albrecht Koch.
2 Bände. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 2000. 
(Marbacher Kataloge. 55), 50 DM. 

Das Schiller-Nationalmuseum Marbach zeigte die Ausstellung von September bis Ende November 2000.
Vom 20. Februar bis zum 28. April 2001 wird sie im Grolier Club New York zu sehen sein, vom 27. Mai bis zum 26. August 2001 als Übernahme der Sächsischen Landesbibliothek/Staats- und Universitätsbibliothek Dresden in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.

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