Reichskammergerichtsmuseum, Wetzlar: Augenscheine – Karten und Pläne vor Gericht

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Der so genannte Klüpfelsau-Plan: Augenschein eines strittigen Gebiets bei Speyer mit der ältesten Stadtansicht vor der Zerstörung im Jahr 1689, gefertigt von Wilhelm Besserer,  LA SP, Best. W 2, vorl. Nr. 21/ BayHStA PlSlg. Nr. 10371

Augenschein – ein profanes Wort, das poetische Assoziationen weckt. Beides – harte juristische Fakten und den weiten Blick auf Landschaften, wie sie vor Jahrhunderten aussahen – deckt die gleichnamige Ausstellung ab, die ab dem 22. November im Reichskammergerichtsmuseum in Wetzlar zu sehen ist.

Denn Augenschein ist ein juristischer Fachbegriff, der es in sich hat: Zunächst geht es hier zwar nur um die unmittelbare Anschauung von Beweismitteln durch den Richter. Wenn es aber gilt, Flussläufe, Dörfer und strittige Grenzen in Augenschein zu nehmen, dann wurde schon im 16. Jahrhundert die Welt als farbiges Abbild in den Gerichtssaal gebracht, in einer Form, die auch heute noch zum Schauen und Staunen anregt. Denn die Künstler der vergangenen Jahrhunderte fertigten detaillierte und oft spektakulär große Landschaftsdarstellungen an, die bislang nur Fachleuten bekannt sind. Die Streitparteien beauftragten die Besten ihrer Zeit – zu nennen sind Christoph Amberger (ca. 1505 – 1562) und Wilhelm Besserer (ca. 1539 – 1601).Augenschein des Gebiets zwischen Frankfurt am Main und den Dörfern Fechenheim und Bornheim, 1575, Staatsarchiv Marburg Karte P II 14.867Augenschein des Gebiets zwischen Frankfurt am Main und den Dörfern Fechenheim und Bornheim, 1575, Staatsarchiv Marburg Karte P II 14.867Anders als Karten zeigen Augenscheine die Landschaft im Detail; sie zeigen die Bedeutung, die Orte für ihre Besitzer und Bewohner hatten: Felder, Weiden, Grenzen, Dörfer. Sie sind das ins Bild gesetzte Ergebnis von Ortsbegehungen und Zeugenaussagen – oder auch die bildgewordene Ansicht einer Streitpartei.

Damit bietet die Wetzlarer Ausstellung eine ganz eigene Mischung: Auf großformatigen Landschaften lassen sich Miniaturen entdecken – etwa wenn Fischer auf einem Fluss, ein Schaftrieb oder ein Geleitzug dargestellt werden. Es gibt Einblicke in die Entwicklung der Kartographie – denn gerade daran, dass Augenscheine keine Karten sind, lassen sich die Unterschiede gut verdeutlichen. Sie entstanden nicht oder zumindest nicht primär auf der Grundlage der sich gleichzeitig entwickelnden Landvermessungstechnik, sondern stehen eher in der Tradition der in Italien entwickelten forensischen Kartographie.

Augenscheine wurden entweder auf Veranlassung des Gerichts angefertigt – meist wenn eine Kommission entsandt wurde, um ein strittiges Gebiet zu begehen und dort Zeugen zu den örtlichen Rechtsverhältnissen zu hören. Dann konnte es vorkommen, dass ein vereidigter Maler mitzog, und die besichtigen Orte en miniature auf der großformatigen Darstellung wiedergab. So konnte sich das Gericht ein anschauliches Bild der Verhältnisse machen und die Zeugenaussagen den fraglichen Plätzen genauer zuordnen. Oder es kam vor, dass das Gericht die Streitenden selbst beauftragte, ihre Position bildlich darzustellen. Das Ergebnis waren dann gleich zwei Augenscheine. Und auch wenn der Auftrag lautete, „einen richtigen Abriß zu produciren", die Maler also zur Neutralität verpflichtet waren, so stellen doch beide Werke kein einfaches Abbild, sondern zwangsläufig eine Konstruktion dar, und zwar nicht nur der Landschaft, sondern vor allem eines bestimmten Interesses an dieser Landschaft. Und gerade hier war es im Sinne der Auftraggeber, sich ein wenig von der Autorität der Künstler zu leihen, die sie in ihren Dienst nahmen – je bekannter, desto besser.

Indem ein Augenschein eine Konstruktion einer Landschaft darstellt und eine Zeugenaussage erläutert, bietet er einzigartige Einblicke in die Art und Weise, wie Menschen vergangener Jahrhunderte ihre Umwelt wahrnahmen. Oft sind es aber auch die Details am Rand, die heute von Interesse sind. So verdankt zum Beispiel die Stadt Speyer eine ihrer ältesten farbigen Darstellungen einem Rechtsstreit vor ihren Mauern und dem zu dessen Abbildung beauftragten Wilhelm Besserer. Oder es sind die Detailfülle und die schiere Größe, die den Betrachter in Erstaunen versetzt. Etwa in der (nicht im Original gezeigten) über 12 Meter breiten Rheinstromkarte, die eine Befahrung des Flusses im Verlauf eines Streits zwischen der Kurpfalz und dem Erzbistum Mainz wiedergibt. Die Rheinstromkarte ist im Internet auf den Seitens des Landesarchivs Baden-Württemberg zu sehen (www.landesarchiv-bw.de/praesmodelle/fricke5/rhein.htm).

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Beitragen von Paul Warmbrunn, Matthias Bähr und anderen. Neben vielen Literaturhinweisen gibt er Auskunft über den Stand der Forschung zum Genre des Augenscheins und zum engen Zusammenhang von bildlicher Darstellung, Zeugenaussagen und Raumauffassung der Zeitgenossen.

Stefan Xenakis


Reichskammergerichtsmuseum, Wetzlar

Augenscheine – Karten und Pläne vor Gericht
22.11.2014 bis 22.3.2015

 

AsKI KULTUR lebendig 2/2014

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