Gesellschaft für deutsche Sprache, Wiesbaden: Die Wörter des Jahres 2022

Engagement für Kultur

Zeitenwende ist das „Wort des Jahres" 2022. „Das keineswegs neue Wort, das speziell für den Beginn der christlichen Zeitrechnung, in allgemeiner Bedeutung auch für jeden beliebigen Übergang in eine neue Ära steht, wurde in diesem zweiten Sinne prominent von Bundeskanzler Scholz verwendet. Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markiere eine „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinentes". Bundespräsident Steinmeier sprach im gleichen Zusammenhang von einem ›Epochenbruch‹. Die deutsche Wirtschafts- und Energiepolitik musste sich völlig neu ausrichten. Bei vielen Menschen fand auch eine emotionale Wende statt. Angst und Sorge vor einem Atomkrieg in Europa, gar vor einem dritten Weltkrieg, waren vielfach zu spüren."

Schauen wir uns das Wort des Jahres etwas genauer an: Der Begriff „Zeitenwende" ist, wie bereits erwähnt, keinesfalls ein neuer, vielmehr beschreibt er im Allgemeinen etwas rund 2.000 Jahre Zurückliegendes: den Wechsel vom Jahr 1 vor Christus zu dem Jahr 1 nach Christus. Nach dieser kalendarischen Zeitrechnung, also „nach unserer Zeitrechnung" – wie diese ohne Bezug zum Religiösen synonym benannt werden kann – gibt es das Jahr Null nicht, sondern das Jahr 1 v. Chr. endet mit dem Beginn des 1. Jahres n. Chr. Die Vorgeschichte, die Antike, das Mittelalter, die Moderne und die zeitgenössische Geschichte sind fünf historisch bedeutsame Epochen der Menschheitsgeschichte.

Dabei wird eine neue Ära durch gravierende Ereignisse, bedeutende Entdeckungen und Erfindungen oder dramatische Entwicklungen eingeleitet, auf die jeweils bedeutende Umwälzungen auf globaler Ebene folgen und die die bisher erlebten Lebensumstände vieler Menschen nachhaltig verändern. Vergangene Zeitenwenden wurden durch die Herrschaft über das Feuer eingeleitet, durch die Erfindung des Rades und des Webstuhls, durch die Entwicklung von Autos, modernen Computern und Smartphones und durch die Entwicklung einer Atombombe. Jochen A. Bär, Hauptvorstandsmitglied der GfdS und Jurymitglied, sieht das Wort Zeitenwende, das spätestens seit den 1920er-Jahren belegt ist, auch als Verweis auf die aus anderen Gründen häufig als Wendepunkt empfundenen Geschehnisse in diesem Jahr: Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung organisierte von April bis Juni eine Diskussionsreihe mit dem Titel „(Un)sicherheit in der Zeitenwende" und erläuterte:

„Mit dem Krieg in der Ukraine,
der Pandemie, dem Klimawandel
erleben wir die Gleichzeitigkeit
dreier transformativer Krisen."

Zudem ließen die finanziellen Belastungen, die bei einer Inflation von 10 Prozent einer großen Mehrheit der Bevölkerung zu schaffen machten, eine Zeitenwende empfinden. Vor allem die Energiepreise wurden durch das Embargo gegen russisches Gas und Öl nach oben getrieben: Sie stiegen um fast 50 Prozent. Zur Bekämpfung der Teuerung hob die Europäische Zentralbank den Leitzins an und änderte dadurch ihre langjährige Geldpolitik, die das Sparen, eine ehemals deutsche Tugend, unrentabel gemacht hatte. Im Februar 2023 jährte sich der Angriff auf die Ukraine, der das letzte Jahr auch sprachlich maßgeblich bestimmte. Wie lange wir alle um den Frieden bangen müssen, ist noch unsicher. Es bleibt die Hoffnung auf ein Ende des Krieges: Krieg um Frieden und dann dauerhafter Frieden. Zudem werden – nach dem Abflachen der entschiedenen Forderungen der Klimabewegung auf eine rasche Umsetzung der Klimaschutzziele während der Corona-Jahre – die klimabewussten Stimmen wieder lauter. Beide Krisen erfordern ein Umdenken über die Gewohnheit von Wohlstand, Gemütlichkeit und Vergeudung von Ressourcen. Die Corona-Krise, die von allen derzeitigen Krisen mittlerweile am ehesten gebändigt zu sein scheint, hat unser aller Immunsysteme herausgefordert und viele überbeansprucht. Eine Immunität gegen das Virus sei zum Großteil erreicht, doch wird das Virus in Mutationen wahrscheinlich fortbestehen, Langzeitfolgen und Impfauswirkungen werden sukzessive erforscht. Der heiße Sommer 2022 bereits ließ viele Menschen an ihre Grenzen stoßen, auch die Sorge um zu wenig Getreide infolge der Hitze, um Dürren und den Krieg machte sich breit. Werden die Menschen auch resilient gegen weitere Krisen werden und ihnen auch sprachlich in dieser Form begegnen? Die Zeiten ändern sich immer, Gemüter müssen sich an Veränderungen gewöhnen. Aber diese persönliche und politische Zeitenwende könnte positive Entwicklungen in der Klimapolitik und somit für die Zukunft in Europa und der Welt bedeuten – und sprachlich zu Interessantem führen.

Wir möchten alle Sprachinteressierten dazu auffordern, sich an der Sammlung der Vorschläge für die Wörterdes Jahres zu beteiligen. Wir suchen insbesondere Wörter, die im Laufe des Jahres besonders in Erscheinung treten, in neuen Bedeutungen verwendet werden oder besonders präsent sind. Senden Sie uns Ihren Vorschlag für das Wort des Jahres 2023!

Dieser Text ist eine stark gekürzte Variante des Aufsatzes von Hanna Gottschalk und Lutz Kuntzsch „Zeitenwende, Inflationsschmerz und Doppel-Wumms. Die ,Wörter des Jahres' 2022 in Deutschland und anderen Ländern der Erde" aus dem Sprachdienst 1–2/23 und um einige Textpassagen ergänzt. Bei der GfdS können detaillierte Informationen zu den einzelnen Wörtern und Quellen angefragt werden. Kursivsetzungen im Text machen Kandidaten für Wörter des Jahres 2022 erkennbar.

Hanna Gottschalk
Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Gesellschaft für deutsche Sprache
AsKI kultur leben 2/2023

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