Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg: Ein Stück bundesdeutsche Literaturgeschichte

© Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e.V. Hinter den Kulissen

Ein spannenderes Forschungsobjekt als das Literarische Colloquium Berlin – kurz LCB – kann man sich in den Kultur- und Geisteswissenschaften wohl kaum wünschen: In der Gründerzeitvilla am Wannsee treffen seit den 1960er-Jahren internationale Literatur, Theater- und Filmproduktion, Übersetzung, Poetologie sowie Kulturpolitik aufeinander und beeinflussen den bundesdeutschen Literaturbetrieb maßgeblich. Seit Beginn dieses Jahres wird das Archiv des Colloquiums im Rahmen eines DFG-Projekts im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg erschlossen.

Dass die Dokumente von Berlin in die Oberpfalz umgezogen sind, hat historische Gründe: Der aus Sulzbach-Rosenberg stammende Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Walter Höllerer engagierte sich für eine Verankerung von moderner Literatur in einer modernen
Gesellschaft. Dafür rief er Zeitschriften ins Leben (wie die „Akzente" oder „Sprache im technischen Zeitalter"), organisierte im Rahmen seiner Tätigkeit als Professor an der Technischen Universität Berlin wirkmächtige Lesereihen (wie „Literatur im technischen Zeitalter") und gründete schließlich 1963 das Literarische Colloquium Berlin mit Unterstützung der amerikanischen Ford Foundation. Dem Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, das Höllerer 1977 in seiner Heimatstadt in der Oberpfalz etablierte, stellte er als Gründungsbestand die über 35.000 Briefe fassende Redaktionskorrespondenz der Zeitschrift „Akzente" zur Verfügung. Mittlerweile befinden sich auch sein Vor- sowie Nachlass in Sulzbach-Rosenberg. Das Archiv des Literarischen Colloquiums Berlin ergänzt damit den vorhandenen Höllerer-Bestand und ermöglicht so die Beschäftigung mit Höllerers umfangreichem Schaffen an einem Ort.

| Das LCB – Ein Haus für die Literatur
Zurück in das Berlin der 1960er-Jahre: Der Grundgedanke des LCB war es, ein modernes, literarisches Zentrum zu schaffen, das internationale Strahlkraft entwickeln sollte – insbesondere in Richtung Osten. Mit seinem modernen, erweiterten Verständnis von Literatur, das auch neuere Medien wie Film und Fernsehen einschloss, sowie einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm mit Übersetzungstagungen, Aufenthaltsstipendien, Publikationsreihen und großen Veranstaltungen für eine breite Öffentlichkeit etablierte sich das LCB schnell als Kristallisationspunkt internationaler und interdisziplinärer Begegnungen. So begann das Programm des Hauses mit dem Workshop „Prosaschreiben", der junge Autoren wie Hubert Fichte, Hans Christoph Buch und Nicolas Born mit der älteren Generation der „Gruppe 47" zusammenführte. Auch heute noch treffen in der „Autorenwerkstatt Prosa" jährlich Nachwuchsschriftstellerinnen und Nachwuchsschriftsteller auf bereits im Literaturbetrieb etablierte Mentoren. Austauschprojekte mit Künstlern und anderen Nationalliteraturen, teilweise in Zusammenarbeit mit Goethe-Instituten, dem Künstlerprogramm des DAAD oder dem Auswärtigen Amt, unterstreichen die internationale Ausrichtung des Colloquiums – gerade im geteilten Berlin in der Zeit des Kalten Krieges. Und auch nach dem Wendejahr 1989 bleibt das LCB so ein zentrales Vermittlungsorgan zwischen west-, ost- sowie südosteuropäischen Literaturen. Allein dieser kurze Abriss der vielfältigen Aktivitäten, der zahllosen internationalen, interdisziplinären und institutionenübergreifenden Vernetzungen des Literarischen Colloquiums macht deutlich, dass das LCB-Archiv zu den herausragendsten Beständen der Institutionengeschichte des bundesdeutschen Literaturbetriebs gehört.

| Neue Forschungsperspektiven auf den bundesdeutschen Literaturbetrieb
Seit 2016 ist der etwa 800 Aktenordner und fast 2500 nicht-schriftliche Dokumente umfassende Bestand als Dauerleihgabe im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg zu finden. Im Rahmen des DFG-Projekts „Erschließung des Archivs des Literarischen Colloquiums Berlin" wird der Bestand nun systematisch aufgearbeitet und für die Forschung zugänglich gemacht. „Es sind in den letzten Jahren schon diverse Forschungsarbeiten zum Literarischen Colloquium auf Basis des Materials im Nachlass Höllerers entstanden", sagt Michael Peter Hehl, wissenschaftlicher Leiter des Literaturarchivs und verantwortlich für das aktuelle DFG-Projekt.

 Etwa 800 Aktenordner sind 2016 von Berlin nach Sulzbach-Rosenberg umgezogen und werden dort nun katalogisiert.© Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e.V.

„Das umfangreiche Archiv des Colloquiums selbst liefert hierzu nun viele Anschlussmöglichkeiten, Ergänzungen und neue Perspektiven. Das sieht man an aktuellen Forschungsprojekten, zum Beispiel zur Filmabteilung des LCB oder auch zu den dortigen Übersetzungscolloquien. So viel ist nach den Vorarbeiten und den ersten Projektmonaten klar: Das neue Material wird unseren Blick auf die Institution LCB erweitern und neue Forschungsansätze eröffnen."

Unter anderem lässt sich anhand der bisher bereits archivierten Korrespondenzen viel Zeitgeschichtliches ablesen – sei es im Kontext der Rezeption der Veranstaltungsreihe „Modernes Theater auf kleinen Bühnen" im Winter 1964/65, die im Nachgang einer der Inszenierungen fast zu einem Kritikerskandal mutierte und Studierendenproteste hervorrief, oder bezüglich Peter Handkes Stellung im literarischen Berlin nach seinem Zerwürfnis mit der Gruppe 47. Daneben lauern aber auch bisher noch unveröffentlichte Manuskripte und deren Vorstufen im Konvolut des LCB-Archivs, zum Beispiel von Oskar Pastior oder Heinz Riedt. Damit diese Materialien im Rahmen von Forschungsfragen zukünftig schnell aufgefunden werden können, arbeitet das DFG-Projektteam seit Januar dieses Jahres an der präzisen Erfassung und Katalogisierung der Ressourcen nach internationalen Standards und gängigen Normdaten. Über die Autografen-Datenbank „Kalliope", die die produzierten Metadaten langzeitverfügbar vorhält, ist der LCB-Bestand durchsuchbar und kann im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg auf Anfrage eingesehen werden. Besonders im Fokus steht dabei die Vernetzung der Dokumente untereinander. „Wir haben es in diesem Bestand oft mit Dokumenten zu tun, die rund um eine Veranstaltung, eine Konferenz oder ein Austauschprogramm entstanden sind", erklärt Michael Peter Hehl. „Das reicht von Verträgen und allgemeinen Korrespondenzen über Manuskripte und Korrekturläufe bis hin zu Video- oder Tonaufzeichnungen. Da erscheint es nur sinnvoll, die Dokumente über die Grenzen der Aktenordner hinweg auch über das gemeinsame Thema zu verknüpfen und so die Recherche für Interessierte von vornherein zu vereinfachen."

Beim Sommerfest des Literaturarchivs führten Nicole Fischer und Katharina Heigl durch die Kabinettausstellung zum DFG-Projekt.  © Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e.V.

| Wissenschaftliche Arbeit im Archiv sichtbarer machen
Neben der Katalogisierung bildet die Wissenschaftskommunikation einen weiteren Arbeitsblock. So ist für das kommende Jahr 2024 eine Konferenz angedacht, bei der das Literarische Colloquium aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet werden soll. Zudem werden im Kontext des DFG-Projekts auch eigene Publikationen des Projektteams entstehen. Der Fokus zielt aber nicht nur auf die Wissenschaft ab: Daneben setzt sich das Projektteam dafür ein, eine breitere Öffentlichkeit für Ihren Forschungsgegenstand zu begeistern. Seit Mitte Juli erhalten interessierte Besucherinnen und Besucher in einer kleinen Kabinettausstellung Einblicke in das Projekt und können bereits erste Archivalien aus dem LCB-Archiv begutachten. Dabei ist der Ausstellungsraum so konzipiert, dass neue Ergebnisse oder Schwerpunkte der Arbeit immer wieder dynamisch miteinbezogen werden können. Zudem sind ab Herbst Veranstaltungen geplant, bei der besonders spannende Fundstücke einem nicht-wissenschaftlichen Publikum präsentiert werden sollen.

Katharina Heigl und Nicole Fischer
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen

AsKI kultur leben 2/2023

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