Museum Casa di Goethe: „Wer einen Garten hat, der teile ihn ..." - Ein Brief aus Rom

Rom, Via del Corso 2020, Foto: Domenico Matilli

Anfang September 2020: Die Casa di Goethe in Rom ist seit Ende Mai wieder für das Publikum geöffnet, als eine der ersten Kulturinstitutionen in der Ewigen Stadt nach dem Ende des strengen Lockdowns.

Dafür mussten höchste Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden, zu denen auch die Reduzierung der Besucher zählt: Nur drei Personen dürfen sich gemeinsam in einem Raum aufhalten, man hat einem festgelegten Parcours zu folgen, das Hin- und Herwandern, um ein Bild ein zweites Mal zu betrachten, ist vorbei. Vorbei ist es für dieses Jahr auch mit den Veranstaltungen im zweiten Stockwerk, der Raum ist zu klein, will man die vorgeschriebene Distanz von einem Meter zwischen den Stühlen einhalten. Also treffen wir unser Stammpublikum nicht mehr, das gesellige Beisammensein nach einer Lesung, der Saloncharakter, der persönliche Austausch ist für die nächste Zeit nicht mehr möglich. Kultur als persönliche Begegnung, als Begegnung mit dem Unvorhergesehenen, hat vorerst „militärischer Ordnung" Platz gemacht. Man meldet sich online an, und der Nebenmann im Saal hält den Mund und wahrt Distanz. Erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnt, mit Maske und Desinfektionsgel auf die Vorschriften zu achten.

Maria Gazzetti, Leiterin des Museums Casa di Goethe, Foto: Kerstin Schomburg

Was Besucher betrifft, ist die Casa di Goethe natürlich auch auf Touristen angewiesen. Zu uns kommen viele Deutsche, Reisegruppen, Schulklassen, aber auch Japaner, Franzosen, Engländer – Goethe gehört eben zur Weltliteratur. Die Bilder eines schönen, aber beunruhigend leeren Roms während des Lockdowns gingen um die Welt. Das Zentrum, Fontana di Trevi, Piazza Navona leer. Die Casa di Goethe liegt neben der Piazza del Popolo im Herzen des Zentrums. Uns war schon im Mai klar, dass wir mit wenig Publikum rechnen müssen, dass wir lokal agieren würden. In der Tat haben uns in diesem Sommer viele Römer und italienische Touristen besucht, die uns vielleicht zufällig auf ihrem Gang durch das Zentrum entdeckten. Aber wir haben auch sofort per Facebook Führungen für maximal drei Personen angeboten, einen „Mezzogiorno da Goethe", zwischen 12 und 13 Uhr. Und das Angebot wurde angenommen! Tatsächlich gibt es heute Museen in Rom, die, an ungleich höhere Besucherzahlen gewöhnt als die Casa di Goethe, Führungen für eine Person anbieten.

Rom, Via del Corso 2020, Foto: Domenico Matilli

Corona-Nebenwirkungen: Ohne den Druck, möglichst viele Besucher zu erreichen, ohne dieses Gefühl, zu versagen, wenn nur wenige kommen, vertritt man selbstbewusster die Qualität und das Nischenthema. Wer jetzt kommt, ist wirklich interessiert. Wir sprechen mit den Besuchern, der Austausch ist intensiver, die Neugier auf unser Museum ist unter den Italienern größer geworden. Man hat das Gefühl, die Kultur gewinnt auf dieser Weise. Wenn auch das zu den Neuheiten der Post-Corona-Zeit zählt, ist es nicht schlecht.

  Die wissenschaftliche Mitar­beiterin Claudia Nordhoff mit Maske vor der Plexiglasscheibe im Eingangsbereich des Museums, Foto: Maria Gazzetti

Inzwischen ist es wieder belebter auf dem Campo di Fiori, das Nachtleben hat wieder begonnen, aber bis heute haben viele Geschäfte, Restaurants und Bars noch nicht wieder geöffnet, Hotels und B&B bleiben geschlossen. Der Herbst naht, was erwartet uns jetzt, wo die Zahl der Infizierten wieder steigt, im Ausland wie in Italien?

Ich lese, dass jetzt im September in New York die Museen schrittweise wieder öffnen, aber längst nicht alle, dass die Öffnungszeiten extrem reduziert sind, dass 20 Prozent der Mitarbeiter gekündigt wurden und dass die ökonomischen Verluste enorm seien. In Italien gibt es noch keine Statistik über die Verluste im Kulturbereich, aber am 3. September 2020 hat das Kulturministerium „angekündigt", dass 20 Millionen Euro bereit stünden, für Institutionen und Veranstalter, die zwischen dem 23. Februar und dem 30. September 2020 wegen des Ausfalls oder des Verschiebens einer Ausstellung im In- und Ausland 50 Prozent Verlust ihrer Einnahmen zu melden hätten, dazu gehören auch Techniker und Transportfirmen. Die Frist für den Antrag ist der 18. September!

In Rom haben alle Museen geöffnet, dass Mitarbeitern gekündigt würde, hört man nicht. Vielleicht gab es ohnehin kaum Personal mehr, dem man hätte kündigen müssen, da das Budget chronisch zu niedrig ist. Man macht also auf dem gewohnten, ungesicherten Niveau weiter und versucht, mit erstaunlicher Energie auf die Lage zu reagieren: das Theater Quirino am Trevi-Brunnen kündigt ein Programm in einer nahe gelegenen Passage an, das Auditorium veranstaltet seit Ende Mai wunderbare Konzerte im Freien, die Oper spielt im Circo Massimo, das Museum Bilotti in der Villa Borghese plant mehrere Kunstaktionen, die im ganzen Park zu sehen sein werden. Die Villa Massimo hat Ende Juni Kunst für die Nachbarn an der eigenen Parkmauer gezeigt. Rom hat Platz genug und das Wetter spielt natürlich mit. Kunst wird in Zukunft mehr öffentlichen Raum beanspruchen, auch wenn dieser bislang vor allem von den Tischen der Restaurants und Bars erobert worden ist.

Nach einem sehr heißen Sommer, indem man sich unvernünftig zu nahe kam, an Stränden, auf Schiffen, an Flughäfen und in Diskotheken (nur Kinos, Museen und Theater dürfen nicht überfüllt sein) lässt sich die Stimmung so beschreiben: Es herrschen Zweifel, Unsicherheit, auch Angst, aber überall in Italien laufen die Räder heiß für die Eröffnungen unzähliger Festivals, man legt euphorisiert tausende Steinchen zusammen, für ein großes Mosaik genannt Kultur. Das Filmfestival in Venedig, das Literaturfestival in Mantua, um nur die berühmtesten zu nennen, aber auch viele andere beginnen in diesem Monat, sie finden statt mit der gezielten Koexistenz ganz verschiedener Formate, Lesungen und Debatten vor Ort, per Streaming, per Video, und dergleichen mehr.

Mir scheint, in dieser Post-Lockdown-Zeit sucht die Kultur stärker die Nähe der körperlichen Gegenwart, das Symposium der Gedanken, die Sensibilität und Sinnlichkeit der Atemzüge, den Klang der Erlebnisse, das eine mehr, das andere weniger, je nachdem, ob es in einer realen oder virtuellen Gruppe geschieht.

Wie wird nun der Herbst werden, was plant man, wenn man immer bereit sein muss, von heute auf morgen eventuell alles wieder zu schließen? Nichts kann mehr ausgeschlossen werden, das haben wir inzwischen lernen müssen. Man weiß auch nicht, wie eine Vernissage demnächst gestaltet werden kann, doch spürt man, wie wichtig es ist, etwas anzubieten.

Giovanni Battista Piranesi, Piazza del Popolo, aus: Vedute di Roma, 1748–1778, Radierung, Foto: Casa di Goethe

Also eröffnen wir am 16. Oktober eine neue Ausstellung, zum 300. Geburtstag des großen italienischen Graphikers Piranesi: „Giambattista Piranesi heute: Vedute und Capricci von Giambattista Piranesi, Gabriele Basilico, Sebastian Felix Ernst, Flaminia Lizzani, Elisa Montessori, Gloria Pastore, Max Renkel und Judith Schalansky" (bis 17. Januar 2021).

Blätter aus unserer eigenen Sammlung werden mit Werken deutscher und italienischer zeitgenössischer Künstler konfrontiert, die von den Darstellungen Piranesis inspiriert wurden. Römische Ruinen und Visionen – wir stecken mitten darin, in seelischen Trümmern, und Piranesi gibt uns in diesem Moment neue Kraft, darauf zu reagieren. 2021 wird dann wieder eine Ausstellung mit deutsch-römischem Thema zu sehen sein: „Spurensucher. Italienkorrespondent Friedrich Noack (1858–1930)".

Und nun? Noch einmal New York. Sechs Monate lang waren die Museen in New York geschlossen, in der Stadt, die niemals schläft und in der auch die Kultur immer „sold out" war. Am ersten Wochenende im September fanden dort die ersten Eröffnungen statt, aber die Museen verkauften nur 25 Prozent der Eintrittskarten, viele wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Wenn jedes dritte Museum in Amerika schließen müsste, wäre das auch eine wirtschaftliche Katastrophe. In Amerika werden die Museen überwiegend von privaten Stiftern finanziert. Noch erhalten die Museen in Deutschland von der Bundesregierung finanzierte Hilfspakete. Aber wie wird man die Verluste verhindern, die wegen ausbleibender Touristen zu erwarten sind? Wie soll man mit globalen Reisebeschränkungen umgehen? Und was passiert mit den freien Mitarbeitern, den Technikern und all den Touristenführern, von denen es in Rom besonders viele gibt, darunter viele junge Menschen?

Die Zukunft der US-Museen hängt von den privaten Stiftern ab, die der deutschen von der öffentlichen Hand. In Italien, vom Virus so hart getroffen, ist die Lage etwas anders. Das Land mit seinem immensen Kunst- und Kulturschatz ist daran gewöhnt, an den Staat keine Erwartungen zu stellen und das kulturelle Leben mit Improvisationsgabe und Enthusiasmus voran­zutreiben. Dies ist heute wichtiger denn je! Institutionen müssen zusammenarbeiten. Wer einen Garten hat, der teile ihn. Mehr denn je müssen Wissen und Erfahrung geteilt werden, muss ein kollektives Kulturbewusstsein entstehen, die kulturellen Zentren des Landes vernetzt werden. Kunst als Erfahrung, das ist es, was Italien jetzt entdecken kann: Dasein, zuhören, schauen, zusammen denken, die Krise hat unseren Sinn dafür wieder geschärft.

In diesem Sinne kann unsere Piranesi-Ausstellung ein Zeichen setzen: Sie wird gemeinsam veranstaltet mit der großen Schau zu Piranesis Ehren im Istituto Nazionale per la Grafica, sowohl die Bibliotheca Hertziana als auch die Villa Massimo sind involviert. Wir stehen mitten in den Trümmern, aber wir arbeiten zusammen, in den römischen Ruinen, aus denen Piranesi Visionen geschaffen hat.

 Dr. Maria Gazzetti | Leiterin des Museums
Casa di Goethe, Rom


Museum Casa di Goethe, Rom
Piranesi oggi | heute
Vedute e Capricci di Giambattista Piranesi, Gabriele Basilico, Sebastian Felix Ernst, Flaminia Lizzani, Elisa Montessori, Gloria Pastore, Max Renkel, Judith Schalansky
16. Oktober 2020 – 28. Februar 2021
www.casadigoethe.it
Katalog, dt/it., hg. von Maria Gazzetti
ISBN 978-3-930370-54-2
www.askishop.de

AsKI kultur leben 1/2020

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