Max-Reger-Institut, Karlsruhe: Frühes Dokument lebenslanger Bach-Verehrung. Neuerwerb eines Reger-Autographs

Stammbucheintrag Max Regers vom 31. Mai 1906, nach einer Postkarte aus Elsa Regers Besitz, Foto: Max-Reger-Institut, Karlsruhe

Max Reger (1873–1916), einer der vielseitigsten Vertreter der musikalischen Moderne um 1900, war davon überzeugt, „daß ein wahrer Fortschritt nur kommen und erwartet werden darf auf Grund der genauesten und liebevollsten Kenntnis" der Werke der Tradition (in seinem Aufsatz „Musik und Fortschritt").

„Ich nehme das Gute, wie es eben kommt", lautete sein Wahlspruch, der ihn jedoch nicht zum Eklektiker werden ließ; vielmehr entwickelte er in intensiver Auseinandersetzung mit den Vorbildern eine unverkennbare Sprache und Kompositionstechnik. Die „liebevollste Kenntnis" nicht nur der Alten, sondern selbst der Zeitgenossen bis zu Hugo Wolf und Richard Strauss erwarb er durch Reproduktionen, auf die Musik im Gegensatz zu den Schwesterkünsten für ihr Nachleben angewiesen ist: Sowohl die klingende Interpretation in Konzerten als auch die schriftlich fixierte Auslegung in Bearbeitungen halfen ihm, möglichst tief in die musikalische Faktur der tradierten Werke einzudringen. Im Zentrum seiner Verehrung stand lebenslang Johann Sebastian Bach, für ihn „Anfang u. Ende aller Musik", wie er wiederholt in Stammbücher eintrug. Über 80 Bach-Werken hat er zwischen 1893 und 1915 eine neue Klanglichkeit gegeben, die in der Bach-Rezeption um 1900 eine eigenwillige Position fern des Historismus einnehmen, so als wolle Reger die Distanz demonstrieren, die selbst der „historisch informierte" Interpret vom Originalklang hat.

Seite 1 der Stichvorlage von Max Regers Bach-Bearbeitung ‘Präludium und Fuge in Es dur‘ BWV 552 für Klavier RWV Bach-B1, Foto: Max-Reger-Institut, Karlsruhe

Im Frühjahr 2019 ermöglichten die Berthold Leibinger Stiftung und die Wüstenrot Stiftung dem Max-Reger-Institut den Erwerb des Autographs einer besonderen Bach-Bearbeitung: „Präludium und Fuge in Es dur" BWV 552 ist die letzte von vier zwischen 1893 und 1896 entstandenen zum Konzertvortrag bestimmten Klavierübertragungen Bach'scher Orgelwerke, die in unserem 2010 erschienenen „Verzeichnis der Werke und ihrer Quellen" unter „RWV Bach-B1" als erste seiner Bach-Bearbeitungen beschrieben wurden, deren Autographe aber verschollen waren. Nun tauchte das Schlussstück wieder auf, dessen Weg bis zu seinem Anbieter überschaubar war: Dem Schenkungsvermerk der Witwe zufolge hatte sie es am 11. Mai 1930, dem 14. Todestag und Datum der Urnenbeisetzung Max Regers auf dem Münchner Waldfriedhof, ihrem Finanzberater Friedrich Hertlein verehrt, dem im Münchner Ortsverein der Max-Reger-Gesellschaft aktiven Bankdirektor und „unermüdlichen treuen 'Arbeiter für Reger'". Aus dessen Nachlass gelangte es über mehrere Erbschaften, aber ohne Umweg über eine Auktion, in die Sammlung des Max-Reger-Instituts und wurde dort mit vielen Dokumenten der Reger'schen Bach-Liebe vereint. Wir sind der Berthold Leibinger Stiftung und der Wüstenrot Stiftung sehr dankbar für ihre großzügige Unterstützung.

Über die ehrgeizige Motivation seiner ersten Bach-Adaptionen unterrichtet eine Briefpassage des 19-jährigen Reger am Ende seiner kurzen Wiesbadener Lehrzeit beim Musikwissenschaftler Hugo Riemann: „ich habe da 3 Bachsche Orgel-Präludien & Fugen für Klavier arrangiert – zum Konzertgebrauch [...]; Riemann ist von der Bearbeitung so eingenommen, daß er z.B. zu Dr. Carl Fuchs, der 8 Tage hier war u. die G moll Phantasie & Fuge (v Liszt arrang.) [spielte], sagte: Du Fuchs, da laß mal den Reger drüber kommen, der macht die Sache viel besser; u. seit der Zeit ermuntert er mich immer ich sollte es doch auch arrangieren. Ja, miserabel schwer, so daß Fuchs, ein riesiger Pianist, die Hände überm Kopf zusammen schlug; aber ich kann sie doch u. habe eine schon gespielt im Konservatorium" (15. Februar 1893 an Adalbert Lindner). Schon hier wird deutlich: Tradition bewahren bedeutet für den jungen Reger zugleich Tradition übersteigern.

Auf „brillante Empfehlung" des Komponisten und gefeierten Klaviervirtuosen Eugen d'Albert erschienen im Londoner Verlag Augener zunächst nur zwei Bearbeitungen, die Reger am 17. Juli 1895 seinem Freund Ferruccio Busoni sandte, mit dem ihn die gemeinsame Bach-Begeisterung verband. „Soeben erhalte ich meine 'Bäche' u. beeile mich Ihnen selbe zuzusenden! Sie werden wohl etwas erstaunt die Widmung 'An B. F. Busoni' betrachten, da ich Sie doch gar nicht einmal um Erlaubnis gefragt hatte. Entschuldigen Sie bitte meine Anmaßung u. nehmen Sie die Widmung an als kleines Zeichen meiner vorzüglichsten Hochachtung u. Verehrung für Sie". Busoni machte umgehend eine eigene Bearbeitung von „Präludium und Fuge D-dur" BWV 532 zum Gegengeschenk; woraufhin Reger seine zwei Jahre zuvor bereits im Konzert vorgetragene Bearbeitung desselben Werks noch einmal grundlegend redigierte, jedoch ohne sie wesentlich zu reduzieren: „also machen Sie sich gefaßt, daß Ihnen am
1. Februar wieder so ein wahnsinnig schwerer Bach mit vielen ff etc. und ,Grandioso' angeflogen kommt" (Brief an den Kritiker Arthur Smolian vom 13. November 1895). Allein die Widmungsträger der vier Bearbeitungen verraten uns, was Reger von den Interpreten verlangte: Es sind ausnahmslos berühmte Klaviervirtuosen, neben Busoni der schottische Komponist Frederic Lamond, der russische Dirigent und Pianist Alexander Siloti und – bei der Schlussnummer – die gefeierte Virtuosin Martha Remmert, laut damaliger Kritik „eine der überzeugendsten Apostelinnen der Liszt'schen Schule".

Die Transkription von „Präludium und Fuge Es-dur" BWV 552 wurde bald nach ihrer Vollendung am 15. September 1896 dem Verleger Augener eingereicht, der das Manuskript jedoch ungedruckt liegen ließ. Während Busoni, von seinem Instrument aus denkend, dem Orgelwerk ein adäquates Klaviergewand gibt, versucht Reger, mit Oktaven und wuchtigen Akkordgriffen den vollen Orgelklang auf dem Klavier zu erzeugen. Ergebnis ist eine kaum spielbare Partitur, deren Verkaufschancen der Verleger gering einschätzte. Da es Reger aber um die Verbreitung gerade dieses hochgeschätzten Bach-Werks ging, entschloss er sich 1903 zu einer weiteren, leichter spielbaren zweihändigen Bearbeitung (RWV Bach-B7). Kaum war diese neue Fassung im Leipziger Verlag Lauterbach & Kuhn erschienen, als der Londoner Verlag auf seine älteren Rechte pochte. Reger konnte jedoch nachweisen, dass es sich um „2 völlig unabhängige Arbeiten" handele, und so brachte auch Augener die Transkription 1904, also acht Jahre nach der Manuskripteinreichung, heraus.

Wie unspielbar der Text ist, wird auch der Notenunkundige ahnen: Auf der ersten Seite der ebenso kalligraphischen wie auskunftsstarken Handschrift in den ,Reger-Tintenfarben' schwarz und rot tritt zu den alle Finger beider Hände bindenden Akkordketten noch eine Basslinie in Oktaven hinzu. Da das Klavier aber nicht – wie die Orgel – über ein Pedal verfügt, kann sich der Interpret nur den Klangvorstellungen des Komponisten möglichst annähern.

Max Reger, Fotografie, Wiesbaden um 1895, Foto: Max-Reger-Institut, Karlsruhe

Die Karlsruher Präsentation des Neuerwerbs am 6. Mai 2019 in der Badischen Landesbibliothek, in der alle Musikhandschriften des Max-Reger-Instituts sicher verwahrt werden, bedeutete zugleich eine Uraufführung – bis heute hatte sich niemand nachweisbar an das Stück herangetraut. Dass wir unser Kuratoriumsmitglied Professor Markus Becker dafür gewinnen konnten, der in diesem Jahr seiner vielfach ausgezeichneten Gesamteinspielung der Soloklavierwerke Max Regers dessen Klavierkonzert in preisverdächtiger CD-Aufnahme nachgereicht hat, machte die Präsentation zum Ereignis. Hatte er zuvor nur die spätere, leichtere Fassung gekannt, so machte er sich mit dem Aufstöhnen „Ran an das Ding" an die Arbeit des Einstudierens und bewies bei der Präsentation glänzend, dass ihm „so ein wahnsinnig schwerer Bach mit vielen ff etc." keinen Schrecken bereiten kann.

Die über Jahrzehnte gewachsene Sammlung bildet die Grundlage der wissenschaftlich-kritischen Reger-Werkausgabe (RWA), die seit 2008 als Projekt der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz im Max-Reger-Institut entsteht und sämtliche Quellen digital zugänglich macht. Im III. Modul der Ausgabe „Bearbeitungen" wird auch die Neuerwerbung neben vielen anderen Dokumenten von Regers Bach-Verehrung veröffentlicht werden. Ob die Publikation viele Interpretationen nach sich ziehen wird, ist eher fraglich. Doch wird sie vielen deutlich machen, wie eigenwillig Regers Umgang mit seinem Übervater Bach schon in den Anfängen war.

Prof. Dr. Susanne Popp
Max-Reger-Institut

 

AsKI KULTUR lebendig 2/2019

 

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