Kunsthalle Bremen: Richard Mosse

 Richard Mosse, Lost Fun Zone, 2012, aus der Serie Infra, Digitaler C-Print; Foto: Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York and carlier | gebauerWie können die komplexen, oft undurchsichtigen und unfassbaren Krisen und Tragödien unserer Welt in Bildern eingefangen werden? Diese Frage treibt den 1980 in Irland geborenen Konzeptfotografen und Videokünstler Richard Mosse um. Seit Jahrzehnten hält er Kriege und Krisen weltweit fotografisch fest: vom Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo, der aktuellen europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik bis hin zur Zerstörung der tropischen Regenwälder im Amazonasgebiet.

Seine Fotografien und Videos sind hoch ästhetisch und zugleich aufgeladen mit politischen und ethischen Fragestellungen. Um seiner eigenen Frustration über die begrenzten Möglichkeiten der konventionellen Dokumentarfotografie sowie der allgemeinen Übersättigung durch zahllose Bilder von Kriegs- und Krisenschauplätzen zu begegnen, bedient sich Mosse außergewöhnlicher bildgebender Verfahren: für seine Arbeiten verwendet er verschiedene Bildtechnologien, die für militärische oder wissenschaftliche Zwecke entwickelt wurden und Dinge sichtbar machen können, die für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Mosse nutzt diese Technologien entgegen ihrer ursprünglichen Funktion, erforscht und zeigt so zum einen die Hintergründe und Auswirkungen globaler Krisen und befragt zum anderen die Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie an sich. Auf der Suche nach dem scheinbar „unmöglichen Bild" lotet Mosse die Grenze zwischen politisch motivierter Dokumentarfotografie und zeitgenössischer Konzeptkunst aus.

Richard Mosse, Drosera toakaiensis, Ecuadorean cloud forest, 2019, aus der Serie Ultra. Digitaler C-Print auf Dibond; Foto: Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York and carlier | gebauer

Die gemeinsam mit dem Künstler vorbereitete Ausstellung in der Kunsthalle Bremen wird erstmals in Deutschland einen breiten Überblick über sein Schaffen geben. Mehr als 70 ausgewählte Fotografien aus seinen bisherigen großen Werkgruppen „Infra" (2010–2014) aus dem Kongo, den „Heat Maps" (2016–2018) mit Bildern von europäischen Flüchtlingscamps bis zu seinen aktuellen Serien „Ultra" (2019/20) und „Tristes Tropiques" (seit 2020), in denen er sich mit der systematischen Zerstörung der Amazonas-Regenwälder auseinandersetzt. Eine neue, raumfüllende Videoarbeit aus dem „Tristes Tropiques"-Werkkomplex ergänzt die Auswahl der Fotografien.

 Infra

Seit 2010 fotografierte Mosse wiederholt in der Provinz Nord-Kivu im östlichen Teil der Demokratischen Republik Kongo. Dieses Gebiet ist seit Jahrzehnten von anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Rebellengruppen und den kongolesischen Streitkräften geprägt: militärische Hinterhalte, Massaker an der Zivilbevölkerung und systematische sexuelle Gewalt haben hier ganze Generationen gezeichnet.

Die unübersichtlichen Konflikte resultieren aus der kolonialen Ausbeutung und dem darauf folgenden Regime des Diktators Mobutu (1965-1997) und sind weiterhin eng verflochten mit Interessen anderer Staaten an den reichen Ressourcen des Landes. Mosse nutzte für seine fotografischen Recherchen im Kongo den seit 2009 nicht mehr hergestellten Infrarot-Farbfilm Kodak Aerochrome, der ursprünglich während des Zweiten Weltkriegs für die militärische Luftaufklärung entwickelt wurde. Er nimmt ein für das Auge nicht sichtbares Spektrum von Infrarotlicht auf und gibt grüne Landschaften in intensiven Lavendel-, Purpur- und Pinktönen wieder; in der militärischen Anwendung konnten so getarnte Menschen und Objekte erkannt werden. Mosses Fotografien der kongolesischen Landschaft, von verlassenen Behausungen und rasch aufgestellten Flüchtlingslagern sowie seine eindrücklichen Porträts von Zivilbevölkerung wie Kriegsbeteiligten zeigen sein Bestreben, die komplexen Verstrickungen hinter der anhaltenden Konfliktsituation zu enttarnen und zu analysieren.

 Heat Maps

Seit 2016 setzte Richard Mosse sich intensiv mit den Folgen der Fluchtbewegungen in Nordafrika, dem Mittleren Osten und Europa auseinander: Er fotografierte zahlreiche provisorische Aufnahmelager entlang der Flüchtlingsrouten nach Europa. Für die großformatigen „Heat Maps" nutzte Mosse eine für militärische Zwecke entwickelte Kamera, die Wärmestrahlung über eine Distanz von 30 Kilometern wahrnehmen kann. Die als Waffe registrierte hochkomplexe Kamera wird gemeinhin von Regierungen für die Überwachung und Verteidigung von Grenzen verwendet.

Richard Mosse, Moria camp, Lesbos, Greece, 2016, Digitaler C-Print auf metallischem Papier; Foto: Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York and carlier | gebauer

Mosses schwarz-weiße „Heat Maps" sind aus einer Vielzahl von hochaufgelösten Einzelaufnahmen zusammengesetzt, die das Leben in den aus weiter Entfernung fotografierten Flüchtlingscamps bis ins Detail offenlegen. Die Fotografien der zumeist stark abgeriegelten und gesicherten Camps wirken wie panoramaartige historische Stadtansichten und lassen zugleich Assoziationen an Konzentrationslager aufkommen, in die die Asylsuchenden interniert sind.

Die Wärmebildkamera erfasst die fotografierten Menschen lediglich als Spuren ihrer körperlichen Wärme: die Gesichter mit wärmeren und kühleren Zonen werden summarisch als zugleich schemenhafte wie schematische Formen wiedergegeben. Der entindividualisierende Blick der Kamera vermittelt auf verstörende Weise die distanzierte Sicht, die die Welt auf die Situation der Geflüchteten hat.

Indem Mosse ein Instrument der militärischen Grenz­sicherung für seine Fotografien verwendet, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Haltung der beteiligten Regierungen gegenüber den Flüchtlingsbewegungen – in einer Zeit, in der Migration längst zum „Konflikt" geworden ist, dem mit militärischen Mitteln begegnet wird.

 Ultra

Seit 2019 steht für Mosse die Auseinandersetzung mit der Zerstörung der Regenwälder im Amazonasgebiet im Fokus seines Schaffens: seine Werkreihe „Ultra" fängt die kostbare und unersetzliche Schönheit des Ökosystems in Peru und Ecuador anhand von minutiösen Detail­aufnahmen von Pflanzen und Insekten ein. Für diese Serie benutzte Mosse eine der Wissenschaft entlehnte Fototechnik zur Erfassung ultravioletter Fluoreszenz, die der fotografierten Flora und Fauna eine ungewohnte, geradezu fremdartige Erscheinung verleiht. Ohne die technische Unterstützung sind die dargestellten irritierenden Farben für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar. Die Aufnahmen sind aus zahlreichen Einzelbildern (in der Regel fünfzig oder mehr Aufnahmen) zusammengesetzt, um großflächige, hyper-detaillierte, ästhetische Landschaften zu erschaffen. Mosse verweist angesichts der immer massiver werdenden Bedrohungen und unwiederbringlichen Zerstörungen der einzigartigen Regenwälder mit diesen Arbeiten auf die Grenzen unserer menschlichen Fähigkeiten und Kenntnisse.

 Tristes Tropiques

In der aktuellen Serie „Tristes Tropiques" setzt Richard Mosse seine Beschäftigung mit dem Amazonas-Regenwald fort, lenkt nun aber die Aufmerksamkeit noch stärker auf Umweltkriminalität und systematische Zerstörung der Natur durch Rodung für Viehzucht, Palmölplantagen oder illegale Goldminen. Für die großformatigen Werke fügte Mosse hunderttausende von mit speziellen, an Drohnen angebrachten Kameras aufgenommenen Multispektralbildern zusammen und bearbeitete sie mit Geoinformationssystemen, die gemeinhin von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern benutzt werden, um ökologische Zerstörungen zu lokalisieren. Gleichzeitig verwendet aber auch die Agrarindustrie diese Technologie, um Landschaften noch gezielter und profitabler nutzen zu können. Die so entstandenen Bilder changieren zwischen wissenschaftlichen Karten und grellbunten Fotografien. Wirken die starkfarbigen Werke aus der Ferne wie malerische Farbfeldmalerei, lassen sie in der Nahsicht kleinste Details erkennen. Wie in seinen vorangegangenen Projekten macht Mosse sich hier eine Technologie zu eigen: Durch sie schafft er ästhetisch wirkmächtige Bilder, die zugleich die Spuren von komplexen ökonomischen und ökologischen Zusammenhängen aufzeigen. Jedes Bild aus der „Tristes Tropiques"-Serie enthält eine Vielzahl von Daten und zeichnet zugleich die breite, immer weiterschreitende Front der radikalen Abholzung, der Landeinnahme durch die Agrarindustrie, des illegalen Bergbaus und der Umweltkriminalität nach.

Richard Mosse, Quemada I, Amazonas, 2019, Analoger Silber­gelatineabzug mit Goldfärbung; Foto: Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York and carlier | gebauerErgänzt wird die Auswahl der „Tristes Tropiques"-Fotografien durch Mosses neue Videoarbeit „Untitled (Rondônia)" (2021), die aus der Luft aufgenommene Videoaufnahmen aus dem Waldgebiet im brasilianischen Bundesstaat Rondônia zeigt. Die eindrücklichen Bilder von erst kürzlich verbrannten Wald­gebieten werden von vor Ort aufgenommenen Tonaufnahmen des Komponisten Ben Frost begleitet.

 Dr. Eva Fischer-Hausdorf |
Kuratorin der Ausstellung

AsKI kultur leben 1/2022

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