Komponisteninstitute im AsKI: Max Reger-Werkverzeichnis - auf den Spuren eines "Accordarbeiters"

Logo MRI

Alte Karlburg Durlach, heute Sitz des Max-Reger-Instituts, Foto: MRI Karlsruhe

Fragte man nach Assoziationen zum Namen Max Reger, so würden neben Orgelmusik und Mozart-Variationen bei vielen unweigerlich "Zwei Stunden Kotelett" an der Spitze stehen - einer nachweislich georderten und verschlungenen Ration des in jeder Beziehung zur Opulenz neigenden Komponisten.

Seine Lebensdaten (1873-1916) decken sich nicht von ungefähr mit der Epoche des deutschen Kaiserreichs, die nach Joachim Radkau (Das Zeitalter der Nervosität, München und Wien 1998) den "Hochdruckmenschen" hervorbrachte, der technische Leitbilder verinnerlichte und an sich selbst wie an eine Maschine höchste Leistungsansprüche stellte.Max Reger arbeitet im Sommerurlaub  1913 in Colberg an der Ostsee am Manuskript der Ballett-Suite op. 130, ©  Foto: Max-Reger-Institut Karlsruhe

Ein solcher Hochdruckmensch war Max Reger, der gerne doppelsinnig mit "Accordarbeiter" unterzeichnete, in der Tat: Ob er komponierte, bearbeitete, korrigierte, konzertierte, unterrichtete, seine berühmten "Witzkisten" auspackte oder legendäre Mengen verzehrte - zeitlebens stellte der Komponist, der sein Studium selbst hatte finanzieren und vor seinen zweifelnden Eltern jeden Misserfolg hatte rechtfertigen müssen, höchste Anforderungen an sich und seine Leistungsfähigkeit. Mit seiner hohen Arbeitsmoral und dadurch erworbenen und viel bestaunten Kunstfertigkeit ging bei ihm der Glaube an die Machbarkeit des Kunstwerks einher, eine in der Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts als altmeisterlich, ja ungenialisch beargwöhnte, in der aufblühenden Industriegesellschaft dagegen angestrebte Vorstellung, die nur gelegentlich dadurch empfindlich gestört wurde, dass ein lange "ausgebrütetes" Fragment als "verunglückt" zur Seite gelegt werden musste. Doch war dies bei Regers Anspruch, jedes Opus "möglichst schwerwiegend" zu gestalten, gelegentlich unvermeidbar.Postkarte von Max Reger an Carl Wendling, 16.3.1913 (Ausschnitt): [ M.L! Herzlichsten Dank  nochmals für Alles, Alles. Ich bin gut heimgekommen & bin schon wieder in Leipzig, wenn Du diese Karte erhältst, bin ich wieder in  Meiningen. Ich habe elend zu thun, schauderhaft. Nochmals besten herzlichsten Dank, ebensolche Grüße, immer ] Dein alter Reger Akkordarbeiter

Hat Reger auch ohne Pause Werk auf Werk gehäuft, so blieb ihm in seinem kurzen Leben weder Zeit noch Sorge, seiner Nachwelt ein geordnetes Erbe zu hinterlassen - hier unterscheidet er sich grundlegend von seinen langlebigeren Zeitgenossen Arnold Schönberg, Richard Strauss und vom jüngeren Paul Hindemith, von denen der Erste seine Noten selbst einband, der Zweite die Bände seiner sorgsam aufgebauten Bibliothek signierte und der Dritte seine Konzertprogramme lückenlos durchnummerierte.

Ein Werkverzeichnis für einen Komponisten von geradezu zwanghafter Produktivität zu erstellen, der oft mehrere Notenverlage gleichzeitig beschäftigte, zugleich aber - wie leider auch seine ihn um 35 Jahre überlebende Witwe - keinerlei archivarische Ambitionen kannte, der bis zu seinem Opus 100 nicht einmal seine Autographen vom Verleger zurückforderte und Briefe nach ihrer Beantwortung vernichtete, ist eine große Herausforderung, der sich das Max-Reger-Institut (MRI) in den kommenden Jahren vorrangig widmen wird. Zu berichten ist also nicht von einem Event - etwa einem spektakulären Kauf, einer aktuellen Ausstellung oder Konzertreihe - , sondern von der alltäglichen Arbeit eines Komponisteninstituts. Dieses wurde zwar bereits 1947 als schöne Vision der Witwe gegründet, konnte aber die ersten Jahrzehnte ohne ausreichende Mittel auf überwiegend ehrenamtlicher Basis nur mit entsprechender Verzögerung seiner vordringlichen Aufgabe nachkommen: die in alle Welt verstreuten Quellen wieder aufzuspüren und aus dem Nichts eine Sammlung aufzubauen, die heute die Grundlage der Reger-Forschung bildet. Erst auf der gesicherten Basis der institutionellen Förderung durch das Land Baden-Württemberg und die Stadt Karlsruhe und in großzügigen, von der Energie Baden-Württemberg AG gesponsorten Räumlichkeiten sind heute die finanziellen und technischen Voraussetzungen gegeben, um mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Standardwerk zu schaffen, das Wissenschaftler, Künstler und interessierte Laien ebenso wie Konzertagenten und Plattenproduzenten mit den wichtigsten Informationen zu jedem Werk Max Regers versorgen soll.

Postkarte von Max Reger an den Verlag Lauterbach & Kuhn, 28.9.1906: <M.L! Bitte lasst den Druck der sämmtlichen Orchesterstimmen zu op 95 möglichst, möglichst möglichst beschleunigen; Steinbach (Cöln) braucht die Orchesterstimmen für Uraufführung baldigst; die Uraufführung ist am 23. Oktober! Also bitte um möglichste Beschleunigung! Besten Gruß Euer Max Reger>, © Foto: Max-Reger-Institut Karlsruhe

Im intensiven Austausch untereinander und mit dem G. Henle Verlag, München, der die Herausgabe betreut, arbeiten alle Institutsmitarbeiter an einer riesigen Datenbank, die auf vielen Vorleistungen aufbauen kann: Da sind zunächst die Handschriften der gedruckten und ungedruckten Werke und Fragmente, Skizzen und Reinschriften, die so weit als möglich erworben, andere von Staatsbibliotheken und Archiven als Kopien herangezogen wurden. Doch was ist mit den Manuskripten in unzugänglichem Privatbesitz, was mit den trotz umfassender Recherchen des MRI noch immer verschollenen Werken? Überraschende Funde der letzten Jahre lassen hier hoffen, dass erneute Rundschreiben und Aufrufe Ergebnisse bringen und Privatbesitzer großzügiger stimmen werden.

Max Reger: Manuskript der Aria op. 103a Nr. 3 für Violoncello mit Begleitung des Pianoforte (oder der Orgel), erste Seite, © Foto: Max-Reger-Institut KarlsruheVon der Entstehung der großen Werke - nach Reger der "Herzblutwerke" - lässt sich aus den vom MRI edierten oder zumindest erfassten Briefen oft jeder Schritt belegen; was aber ist mit den Nebenprodukten, die buchstäblich parallel entstanden und plötzlich einfach da sind und zu denen teilweise nicht einmal die Verlagskorrespondenz erhalten ist? Hier ist zu hoffen, dass die neben Standort- und Provenienzerfassung vorgesehene knappe Manuskriptbeschreibung - ein Novum in der Reger-Forschung - mit Erkenntnissen über Papiersorten und Beschriftungsmaterial neue Erkenntnisse bringt.

Als Quellen gelten auch die Erstdrucke der Werke: Da Reger während des Korrekturprozesses noch tiefe Eingriffe in seine Werke vornahm, geben sie - unbeschadet der Änderungsgründe - den Willen des Autors wieder. Als das MRI in den 50er Jahren mit seiner Sammeltätigkeit begann, musste es das Angebot einer nahezu vollständigen Sammlung der Erstdrucke für 3.000 DM ablehnen - bei einem Jahresetat von 5.000 DM eine unvorstellbare Summe! Heute sind daher immer noch Lücken - zum Teil nur noch in Form von Kopien - zu schließen. Ein Sonderproblem stellen an die 130 kleine Werke dar, deren Erstdrucke als Beilagen verschiedener Zeitschriften erschienen; da diese meist lose in den Zeitschriften lagen, blieben sie nur in wenigen Bibliotheken erhalten, vom Verbleib der Autographen in den Zeitschriftenredaktionen ganz zu schweigen. Als Alptraum jedes an einem Werkverzeichnis arbeitenden Musikwissenschaftlers sei Reger Opus 79 angeführt, insgesamt 53 Zeitschriftenbeilagen unterschiedlicher Besetzung - Kammermusik, Klavier- und Orgelwerke, Lieder und Chöre -, die Reger unter dem Leistungsdruck einer möglichst "schwerwiegenden" Gestaltung in einer einzigen, vielfach unterteilten Opuszahl zusammenpresste.

Agostino Raff, Max Reger, Linker Teil eines Triptychons (Ausschnitt), © Foto: Max-Reger-Institut Karlsruhe

Bei den Uraufführungen ist es ähnlich: Um sie stritten die Interpreten bei den großen kammermusikalischen und sinfonischen Werken, so dass hier die Korrespondenz, aber auch die Kritiken- und Programmsammlung hinreichende Auskunft gibt. Was aber ist mit den ca. 200 Charakterstücken für Klavier oder den ca. 300 Liedern und über 100 Chören, die selten als Zyklus, sondern einzeln aufgeführt wurden und in Kritiken kaum Erwähnung finden?

Beim Versuch, die Textvorlagen von Regers Liedern und Chören zu eruieren, sind vollends detektivische Fähigkeiten gefragt. Mit neidischem Blick auf die Bibliothek von Richard Strauss steht man bei Reger vor der Aufgabe, versteckte Hinweise aus den Briefen zu gewinnen. Denn Reger sammelte Texte, wo immer er sie finden konnte: in Literaturzeitschriften, Programmheften und zeitgenössischen Anthologien, er forderte seine Freunde auf, ihm Texte abzuschreiben, korrespondierte mit Gustav Falke, Stefan Zweig, Richard Dehmel, Otto Julius Bierbaum u. a., von denen er teilweise handschriftliche Texte noch vor deren Herausgabe erhielt.

Angesichts der Materialschlachten wird die avisierte Buchform in vielem gesprengt werden - es ist daher an eine begleitende Edition auf CD-ROM gedacht, die Ergänzungen durch Bild und Ton bringt. Für den Wissensaustausch und zur Schonung der Originale wäre die gleichzeitige Digitalerfassung der Handschriftensammlung - auch dies eine Frage der Finanzierung - wünschenswert. So wird aus vielen Mosaiksteinchen ein Gesamtbild entstehen, dass neben Mozart-Variationen, Orgelmusik und zwei Stunden Kotelett die schier unermessliche Fülle kombinatorischer Phantasie belegen wird, die Regers Œuvre auszeichnet.

Dr. Susanne Popp
Leiterin des Max-Reger-Instituts, Karlsruhe

 

AsKI KULTURBERICHTE 1/2002

.

xxnoxx_zaehler