Kleist-Museum, Frankfurt (Oder): Mit Heinrich von Kleists Handschrift am Computer schreiben

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Kontextbasierte Regeln in der Zauberformel „abrakadabra“: Der Wortanfang zeigt das a ohne Aufstrich, das zweite a wird oben angeschlossen an das vorstehende r, das dritte a unten an k, das vierte a wieder oben an d, während das letzte a oben angeschlossen wird an r und, da es am Wortende steht, nur einen kurzen Abstrich hat, Foto: kleist-digital.de

In der gut besuchten Ausstellung „Ach! Echt? Kleist", die als Neuerwerb einen verloren geglaubten Briefschluss Heinrich von Kleists präsentierte, kam auch der sogenannte „Kleist-Handschriftengenerator" zum Einsatz.

Mit diesem konnten die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung Postkarten in Kleists Handschrift beschreiben, was manche Verblüffung auslöste und viel Zuspruch fand.

Weltweit werden täglich immer neue Bibliotheksbestände digitalisiert, hierunter auch zahllose Handschriften, insbesondere aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Die großartige „edition humboldt digital", Alexander von Humboldts Reisetagebücher und Briefe sollen hier nur als ein Beispiel benannt werden. Als Ergebnis haben wir die paradoxe Situation, dass einer zunehmenden Vielfalt an handschriftlichen Quellen eine abnehmende oder erst gar nicht vorhandene Kompetenz der Entzifferung alter Handschriften gegenübersteht. Wie ließe sich nun diese Kompetenz entwickeln, damit alte Handschriften, in unserem Fall Kleists Handschrift auch gelesen werden können? Dies war eine der Ausgangsfragen für die Entwicklung des Handschriftengenerators.

Eine der effektivsten Methoden, sich mit einer (alten) Schrift vertraut zu machen, besteht darin sie nachzuschreiben. Der klassische Weg mit Bleistift und Papier setzt allerdings immer schon voraus, dass einzelne Zeichen entziffert sind, bevor sie nachgeschrieben werden können. Diese Hürde, eine zumindest rudimentäre Lesekompetenz schon vorab erworben zu haben, entfällt beim Schreiben mit dem Kleist-Handschriftengenerator, hier „funktioniert" das Schreiben in Kleists Handschrift sofort. Die am Bildschirm erscheinenden Buchstaben und Wortbilder befremden zunächst, da in „unleserlicher Hand" geschrieben, werden aber, da die Bedeutung des Geschriebenen dem Schreiber ja bekannt ist, nach und nach vertrauter. Mit einiger Übung und dem Abschreiben verschiedener Sentenzen Kleists oder eigener Texte verliert Kleists Handschrift ihre Fremdheit und es entwickelt sich eine grundsätzliche Lesekompetenz, die das Lesen von Manuskripten und Briefen Kleists erlaubt.

Simuliert werden Handschriften am Computer durch entsprechende Computer-Fonts (digitale Fassungen einer Schriftart). Allerdings unterscheiden sich Handschriften von gesetzten Schriften durch ihre Individualität, Varianz und nicht zuletzt durch die Verbundenheit der einzelnen Buchstaben. Speziell die Buchstabenverbindung stellt an das Design eines Handschriften-Fonts hohe Anforderungen. Entsprechend komplex wird die Umsetzung, da für jeden Buchstaben die Verbindungselemente definiert werden müssen, um ihn an den vor- und nachstehenden Buchstaben anzubinden. Dabei sind die Anschlüsse nicht einheitlich. Im Regelfall werden die Buchstaben auf der Grundlinie angeschlossen, bei einzelnen Buchstaben wie b, d, o, ö oder r werden die folgenden Buchstaben aber im oberen Bereich angeschlossen. Insofern muss für jeden Kleinbuchstaben eine Variante mit oberem und eine mit unterem Anschluss vorliegen. Hinzu kommen Formen für Wortanfang und -ende, da hier die Verbindungselemente fehlen, dafür aber Aufstriche bzw. Abstriche. Neben den kursiven Verbindungen gibt es in Handschriften sog. Ligaturen, spezifische Buchstabenverbindungen, die als Formverkürzungen dienen. Sie sind entweder standardisiert oder individuell ausgeprägt. So schreibt Kleist ein „sch" anders als das einzelne s, c, h. Entsprechendes gilt für viele derartige Formverkürzungen, u. a. st, ch, tz, sp etc., die das Gesamt-Schriftbild wesentlich mitprägen. Diese Ligaturen sind in den Fonts enthalten und werden automatisch eingesetzt.

Der Kleist-Handschriftengenerator, Foto: kleist-digital.de

Das technische Opentype-Fontformat bietet alle Möglichkeiten für die Umsetzung dieser Anforderungen. Im Rahmen des Handschriftengenerators sind bislang zwei Fonts entwickelt worden, „Kleist Ghonorez" und „Kleist Prinz Wilhelm", genannt nach ihren Vorlagen, dem Ghonorez-Manuskript und Kleists Brief an Prinz Wilhelm von Preußen. Das Herzstück von Opentype-Fonts sind kontextbasierte Regeln, nach denen entschieden wird, welche grafische Form (Glyphe) im jeweiligen Buchstabenkontext benutzt wird. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu den gebräuchlichen Satzschriften. Deshalb wird es die meisten Nutzerinnen überraschen, dass sich die einzelne Buchstabenform während des Schreibens fortlaufend ändert, abhängig vom spezifischen Kontext.

Prägendes Merkmal alter Handschriften (Kleists Kurrent, Sütterlin-Schriften), aber auch des alten Frakturdrucks ist der Gebrauch des langen s, der nach Einführung der „Lateinschrift" (1941) aufgegeben wurde. Das Regelwerk, wann ein langes bzw. ein rundes s geschrieben wird, ist komplex. Stark vereinfacht gilt die Grundregel, dass am Wort- und Silbenanfang ein langes s, am Wortende ein rundes s geschrieben wird. In den Fonts „Kleist Ghonorez" und „Kleist Prinz Wilhelm" ist ein komplettes Regelwerk implementiert, das automatisch entscheidet, ob ein langes oder rundes s geschrieben wird. So muss der Nutzer nur ein s auf der Tastatur eingeben, der Font entscheidet dann selbstständig, ob es als langes oder rundes s dargestellt wird.

Kleist schrieb in der um 1800 gebräuchlichen deutschen Kurrent. Trotz aller individuellen Züge erschließen sich über das Schreiben und Lesen von Kleists Handschrift nach und nach auch andere zeitgenössische Handschriften. Insofern bietet der Handschriftengenerator eine Möglichkeit, sich die Kompetenzen zu erwerben, um die wachsende Vielfalt von digitalisierten Handschriften im Netz auch lesen zu können, die sonst nur schön anzuschauende Kalligraphien blieben.

Der Handschriftengenerator ist vom Verfasser dieser Zeilen entwickelt und erstmalig im Kontext der Werkausgabe kleist-digital.de veröffentlicht worden.

Hier können Sie ihn selbst ausprobieren:

www.kleist-digital.de/kleist-handschriften-generator

Günter Dunz-Wolff
Schatzmeister der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft
Herausgeber kleist-digital.de

 

AsKI KULTUR lebendig 2/2019

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