Goethe Jahr 1999 : Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar - Goethe, Götz und die Gerechtigkeit

Georg Oswald May, Johann Wolfgang Goethes Aufenthalt in Wetzlar 1772, Öl, 1779, Public domain, via Wikimedia Commons

„Sage man sich daher, daß die schöne Literatur einer Nation nicht erkannt, noch empfunden werden kann, ohne daß man den Komplex ihres ganzen Zustandes sich zugleich vergegenwärtigt."

Diese Aussage Goethes macht deutlich, daß ein Werk auch aus dem Umfeld seiner Geschichte gesehen werden muß. So ist Goethes „Götz von Berlichingen" nicht nur ein Produkt eines Schriftstellers aus dem 18. Jahrhundert, sondern führt uns zugleich in die Zeit der Reformation, des Humanismus und der Bauernkriege.

Bei den Vorbereitungen auf sein Praktikum am Reichskammergericht in Wetzlar stieß Goethe 1771 auf die historische Gestalt des Ritters Götz von Berlichingen. Der Konflikt des fehdegewohnten Ritters mit dem Gewaltmonopol des Reiches faszinierte den jungen Juristen. Der „historische Wendepunkt", den die Errichtung des Reichskammergerichts 1495 darstellte und der sich aus heutiger Sicht als erster Ansatz zur Ausbildung des neuzeitlichen Rechts- und Verwaltungsstaates darstellt, erschien Goethe geeignet, eigene Empfindungen eines Zeitenwandels und Kritik an den Verhältnissen seiner Zeit künstlerisch zu formulieren.

Der „Urgötz" (1771), eine locker gefügte Szenenfolge ohne Berücksichtigung der Möglichkeiten einer Bühnenrealisierung, wurde für die anonyme Druckfassung (1773) überarbeitet und später von Goethe mehrfach umgestaltet. Die erste Druckfassung begründete den Erfolg des Stücks, das beinahe zum Synonym für die literarische Bewegung des „Sturm und Drang" in Deutschland wurde.

Johann Wolfgang von Goethe, Götz von Berlichingen, 1773, Titelblatt der Erstausgabe, Goethe-Museum Diisseldorf

„Götz von Berlichingen" zeigt als Geschichtsdrama den Übergang vom mittelalterlichen Ständestaat zum neuzeitlich geprägten Rechts- und Verwaltungsstaat. Der hochbedeutende „Wendepunkt der Staatengeschichte" Deutschlands im frühen 16. Jahrhundert wird von Goethe aus dem Blickwinkel des späten Ancien Regime gestaltet: Die Erfahrung fürstlicher Maßlosigkeit, Machtgier und Sittenlosigkeit einerseits, der skrupellosen Instrumentalisierung des Rechts zu egoistischen Zwecken andererseits und schließlich der prosaisch-materialistischen Selbstzufriedenheit eines politisch weitgehend uninteressierten Bürgertums verdichten sich in Goethes Jugenddrama zur vehementen Forderung nach einem gesellschaftlich-politischen Neubeginn und einer grundlegenden Neustrukturierung des Wertesystems, vor allem aber zur Forderung nach uneingeschränkter Selbstentfaltung des sittlich autonomen Individuums.

Das Drama ist nicht nur Rückblick in die Geschichte, sondern auch von aktuellem Bezug. Das Problem des Faustrechts und der Selbsthilfe wird in allen geschichtlichen Epochen bis in unsere heutige Zeit immer wieder virulent und gibt Anlaß, sich mit den verschiedenen Versuchen einer Lösung zu beschäftigen. Das aktuelle Bewußtsein von Wertewandel bzw. Werteverlust, Skepsis gegenüber der Integrität und Leistungsfähigkeit des Rechtssystems, Erscheinungen von Politik- und Staatsverdrossenheit, die pessimistische Rede vom „Ende der Aufklärung" und das offenbar immer noch unbefriedigte Bedürfnis nach nicht reglementierten Freiräumen zur Entfaltung autonomer Individualität scheinen in ihrer Gesamtheit die neuerliche Auseinandersetzung mit Goethes Ritterschauspiel zu begünstigen.

Die bei den jugendlichen Zeitgenossen Goethes sehr beliebte Gestalt des physisch starken, schmerzunempfindlichen, menschlich sympathischen und unkompliziert denkenden Helden, der im Konfliktfall sein Recht „mit eiserner Faust" selbst erstreitet, hat seit 1773 offenbar kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt. Die Neigung zur „Selbsthilfe", wenn das Rechts- und Gewaltmonopol des Staates nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigt, scheint als latente Versuchung auch heute noch - oder vielleicht wieder - vorhanden zu sein.

In der Ausstellung „Goethe, Götz und die Gerechtigkeit" - vom 2. Juli bis 3. Oktober 1999 im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar zu sehen - soll das in jeder Hinsicht problematische Ideal des „Selbsthelfers" zur Diskussion gestellt und aktualisiert werden.

Das lokale Interesse Wetzlars am Ausstellungsthema ist offenkundig: Dem Praktikum am Reichskammergericht bzw. dessen Vorbereitung verdankt der Autor die Bekanntschaft mit dem Stoff und eine Reihe thematischer Einzelmotive und szenischer Einfälle. Daß der historische Wendepunkt zudem am Paradigma von Recht, Gesetz, Redlichkeit und Rechtlichkeit vorgeführt wird, für den die Gründung des Reichskammergerichts und die Rezeption des römischen Rechts als historische Marken stehen, verstärkt den lokalen Bezug und begründet das Engagement der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung und der Städtischen Sammlungen Wetzlar für das Ausstellungsprojekt, dessen Schirmherrschaft die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Frau Prof. Dr. Jutta Limbach, übernommen hat.

Dem Besucher soll gezeigt werden, daß Goethe während der Entstehung des „Götz" - in seiner „Sturm- und Drangzeit" - dem einfachen ritterlichen und bäuerlichen Denken stärker verhaftet war als in der späteren Epoche seines Wirkens, in der er einer Friedens- und Rechtsordnung sowie dem Gewaltmonopol des Staates den Vorrang gab. Die Ausstellung versucht, die Ambivalenz dieser Staatsauffassung in jungen und älteren Jahren Goethes anhand von Originalbelegen darzustellen.

Folgende Themenschwerpunkte werden berücksichtigt:

  • Die historische Gestalt des Götz von Berlichingen;
  • Quellen, Anregungen, Entstehung des „Urgötz" und der Druckfassung von 1773;
  • Die zeitgenössische Rezeption dieses Stücks;
  • Götz am „Wendepunkt der Staatengeschichte": spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Rechtsauffassungen zwischen Fehde und Reichskammergericht;
  • Zeitkritik Goethes am Beispiel des „Götz" und die Gesellschafts-, Moral- und Zivilisationskritik der jungen Generation um 1770;
  • Die Rezeption des „Götz von Berlichingen" im 19. und 20. Jahrhundert;
  • Der Selbsthelfer - Die Eisenhand - Der einsame Ritter: Drei Motive des „Götz" in der bildenden Kunst um 1900 und im Film.

Der Kernbestand der Exponate setzt sich naturgemäß aus Bildern, Grafiken und Büchern zusammen. Darüber hinaus sollen jedoch mit Hilfe von Hörfunksendungen, Film und Fernsehen sowie durch kreative Rekonstruktionen alle Sinne des Besuchers angesprochen werden.

Eine Götz-Inszenierung im Rahmen der Wetzlarer Festspiele, und eine ausstellungsbegleitende Vortragsreihe sind ebenfalls geplant.

Die Ausstellung - zu der auch ein Katalog erscheint - wird unterstützt vom ZDF, vom Hessischen Rundfunk und vom Deutschen Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main - Berlin.

Dr. Gisela Sachse
freie Mitarbeiterin des Reichskammergerichtsmuseums, Wetzlar

 

AsKI KULTURBERICHTE 1/1999

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