Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main: Erinnern – Erzählen – Erhalten. Die Zeitzeugeninterviewsammlung im Archiv

Johannes Beermann-Schön bei der Sichtung eines Zeitzeugeninterviews (hier ein Gespräch mit Bernhard Natt, in dessen Wohnung in Israel im Jahr 1999). Veröffentlicht unter dem Titel ‘Returning from Auschwitz‘ in der Reihe ‘Zeitzeugen–Interviews auf DVD für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit‘, Foto: Werner LottHinter den Kulissen
Seitdem im Jahr 1993 die Arbeitsstelle zur Vorbereitung des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust – ab 1994 Arbeitsstelle Fritz Bauer Institut – eingerichtet wurde, führt die Forschungs- und Bil­dungseinrichtung Zeitzeugeninterview durch.

Mittlerweile liegen über 250 Mitschnitte von Gesprächen mit Überlebenden der nationalsozialistischen Massenverbrechen – insbeson­dere des Holocaust –, ihren Angehörigen und Personen, die den Nationalsozialismus un­mittelbar erlebt haben oder nach 1945 an Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen beteiligt waren, in Bild und/oder Ton vor.

Entsprechend dem rasanten technologischen Wandel der vergangenen 30 Jahre sind diese Interviews auf einer Vielzahl unterschiedlicher Trägermedien aufgezeichnet. Einige dieser Audio- und Videoformate drohen in absehbarer Zeit obsolet zu werden, da sich für sie mittelfristig immer weniger Abspielgeräte und für die Wartung der Abspielgeräte kaum noch Ersatzteile finden lassen. Das Archiv des Fritz Bauer Instituts hat daher 2018 damit begonnen, seine Zeitzeugeninterviewsammlung zu digitalisieren und inhaltlich zu erschließen. Zwar dauert dieses technisch und personell herausfordernde Vorhaben derzeit noch an, dennoch soll im vorliegenden Beitrag ein kleiner Einblick in die Vielfalt des Bestandes und die laufenden Erschließungsarbeiten gegeben werden.

Die Anfänge

Die Mehrzahl der aufbewahrten Zeitzeugeninterviews wurde von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bereichs Vermittlung und Transfer initiiert und geführt. In der Gründungsphase des Fritz Bauer Instituts in den 1990er-Jahren fanden die Gespräche vor allem anlassbezogen, etwa im Rahmen von Gedenkveranstaltungen oder von Forschungsprojekten, statt. Dementsprechend spezifisch sind oftmals die in den Interviews gestellten Fragen, während bei späteren Aufzeichnungen das freie Erzählen der Interviewpartner mehr Raum einnahm. Ein Beispiel für ein frühes Zeitzeugengespräch ist das im Juni 1997 aufgezeichnete Interview mit dem Komponisten und Musikwissenschaftler Paul Aron Sandfort (1930–2007). Sandfort war als Dreizehnjähriger im Herbst 1943 gemeinsam mit seiner Mutter von Kopenhagen aus in das Konzentrations­lager Theresienstadt verschleppt worden. Da er Klavier und Trompete spielen konnte, wurde er hier für das Häftlingsorchester rekrutiert. Sandfort spielte den Trompeter in Hans Krásas Kinderoper „Brundibár" sowie während der Inspektion des Internationalen Roten Kreuzes im Juni 1944 in Giuseppe Verdis „Messa da Requiem". Das Interview mit ihm entstand im Rahmen der 1998 vom Fritz Bauer Institut gemeinsam mit der Jeunesses Musicales Deutschland begleiteten Wiederaufführung des Stückes „Brundibár" an zahlreichen Schulen, Musikschulen und Jugendkultureinrichtungen in Deutschland und konzentrierte sich in erster Linie auf dieses Thema.

Screenshot der Zeitzeugen-Interviewsammlung in der Datenbank des Archivs. Zu sehen ist das Interview mit Herbert Ricky Adler aus dem Jahr 1995, Foto: Fritz Bauer Institut / mpfphotography/ fotolia Um die Jahrtausendwende initiierte der pädagogische Bereich des Fritz Bauer Instituts dann gemeinsam mit dem Medienzentrum Frankfurt am Main eine thematisch breit angelegte Serie von zehn Zeitzeugeninterviews, deren Schwerpunkt auf Hessen lag. Interviewt wurden Personen, die als Jugendliche und junge Erwachsene den Holocaust und den Völkermord an Sinti und Roma überlebt hatten, aber auch ehemalige Schüler einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (NAPOLA) oder Jugendliche, die ab 1940 von den sogenannten Kinderlandverschickungen betroffen waren. Diese Interviews sollten der Vermittlungsarbeit an Schulen dienen und wurden an interessierte Lehrkräfte herausgegeben. Eines dieser Videos, das in Kooperation mit dem hessischen Landesverband deutscher Sinti und Roma entstand, trägt den Titel „Der Lehrer wusste, was da passiert. Bericht eines Sinto" und erzählt die Lebensgeschichte von Herbert Ricky Adler (1928–2004). Adler wurde 1941 gemeinsam mit seiner neunköpfigen Familie von Frankfurt-Sachsenhausen aus in das städtische „Zigeunerlager" im Stadtteil Riederwald verschleppt. Er berichtete in seinem Interview von den dort herrschenden Lebensverhältnissen und dem Tod seines Bruders, der im August 1942 bei einem Unfall während eines Zwangsarbeitereinsatzes ums Leben kam. 1943 wurde die Familie Adler vom Frankfurter Ostbahnhof aus in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert und hier im sogenannten Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau einquartiert. Adlers Eltern und drei seiner Geschwister wurden in Auschwitz ermordet. Er selbst kehrte 1945 nach Frankfurt am Main zurück, engagierte sich lange Jahre beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und war bis zu seinem Tod im Jahr 2004 Mitglied im Rat der Überlebenden des Fritz Bauer Instituts.

Der Ausbau der Sammlung

Der Großteil der heute vom Archiv verwahrten Zeitzeugeninterviews entstand in den 2000er-Jahren. So wurden 2005 und 2006 gemeinsam mit dem Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen in Polen, Frankreich und Israel acht ehemalige Zeuginnen und Zeugen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965) zu ihren Erfahrungen und Erlebnissen während dieses historisch bedeutenden Strafverfahrens befragt. Ab 2007 begab sich das Fritz Bauer Institut intensiv auf die Suche nach ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz-Monowitz. Hintergrund war die zeitgleiche Einrichtung des Wollheim Memorials, das an die Zwangsarbeiter und Opfer des für die Buna-Werke der IG Farben AG betriebenen Lagerkomplexes erinnert, auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Insgesamt gelang es dem Institut, 23 Zeitzeugen ausfindig zu machen, die sich bereit erklärten, im Rahmen des Projektes interviewt zu werden. So entstanden über 70 Stunden Videomaterial, das über die Website des Fritz Bauer Instituts abrufbar ist:
www.fritz-bauer-institut.de/norbert-wollheim-memorial

Einen stärker regionalgeschichtlichen Bezug verfolgten wiederum 20 Interviews, die Ursula Ernst von der Bildungsstätte Anne Frank für das Fritz Bauer Institut in den Jahren 2006 bis 2011 führte. Befragt wurden hier Personen, die nach 1945 in der Rhein-Main-Region ansässig waren. Anders als bei den wenige Jahre zuvor entstandenen Interviews mit lokalem Bezug zu Hessen standen bei diesen Gesprächen nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch die Jahrzehnte nach Kriegsende und das Leben in der frühen Bundesrepublik im Fokus.

Verschiedene Trägermedien mit Zeitzeugen-interviews vor ihrer Digitalisierung im Archiv des Fritz Bauer Instituts, Foto: Johannes Beermann-Schön

Kooperationen und Zukunftspläne

Die Zeitzeugeninterviewsammlung des Archivs des Fritz Bauer Instituts kann nach Voranmeldung an einer eigens zu diesem Zweck eingerichteten Arbeitsstation im IG Farben-Haus auf dem Campus Westend der Goethe-Universität eingesehen werden. Die seit 2017 und 2018 bestehenden Kooperationen mit dem Visual History Archive der USC Shoah Foundation an der University of Southern California und dem Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University, Connecticut, ermöglichen über das Terminal zugleich den Zugriff auf die Videobestände dieser beiden Institutionen. Das Visual History Archive der USC Shoah Foundation wurde 1994 von Hollywood-Regisseur Steven Spielberg ins Leben gerufen und umfasst mittlerweile über 52.000 aufgezeichnete Interviews mit Überlebenden des Holocaust. Es ist damit eines der größten Archive seiner Art weltweit. Vorbild war das bereits im Jahr 1979 gegründete Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies.

Mit einem Gesamtumfang von etwa 4.500 Zeitzeugeninterviews ist es zwar deutlich kleiner als das Visual History Archive, aber dafür finden sich hier dank des höheren Alters der Institution Aufzeichnungen von Gesprächen mit Überlebenden des Holocaust, die Anfang des 20. und zum Teil sogar noch Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Die Videobestände des Visual History Archive, des Fortunoff Video Archive und des Archivs des Fritz Bauer Instituts ergänzen sich gegenseitig – sei es, weil einzelne Gesprächspartner den Einrichtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten mehrere Interviews gewährt haben, oder weil ausgewählte Zeitzeugengespräche zwar in dem einen, jedoch nicht in dem anderen Bestand vorhanden sind. Die drei Sammlungen bieten der historischen Forschung zahlreiche Ansatzpunkte für weitergehende Fragestellungen. Zukünftig wird sich das Archiv des Fritz Bauer Instituts deshalb verstärkt darum bemühen, seine Zeitzeugeninterviews, soweit technisch und rechtlich möglich, noch leichter zugänglich zu machen. Die entsprechenden Vorarbeiten dafür laufen bereits.

Gekürzter Nachdruck eines Beitrages aus „Einsicht 2021, Bulletin des Fritz Bauer Instituts"

Johannes Beermann-Schön
Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut, zuständig
für den Bereich Archiv und Dokumentation


Eine Auswahl der noch auf DVD erhältlichen Zeitzeugeninterviews finden Sie hier:
www.fritz-bauer-institut.de/publikationen-paed

AsKI kultur leben 1/2023

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