Franckesche Stiftungen zu Halle: Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute

Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute, hg. im Auftrag der Franckeschen Stiftungen von Claudia Weiß und Holger Zaunstöck, Halle 2023, 200 S., 156 Abb., 28 €, ISBN 978-3-447-11977-1

Das Streiten ist Teil jeder menschlichen Vergesellschaftung – konkrete Streitfälle sind aber nur durch die Analyse der jeweiligen historischen Situation zu verstehen. Davon geht die Ausstellung aus und hat zum Ziel, dem Thema Streit, das uns alle unmittelbar betrifft, eine historische Tiefenstruktur zu verleihen.

Die Schau setzt bei der Beobachtung an, dass über die Regeln, wie zu streiten ist, keine Einigkeit herrschte und herrscht. Ziel ist es zu zeigen, dass die erhitzte und als verroht empfundene Streitwelt in den Sozialen Medien unserer Tage eine lange Vorgeschichte besitzt. Das Streiten im Sinne konfliktbeladener zwischenmenschlicher Interaktion ist zwar eine anthropologische Konstante, aber wie die Menschen in konkreten Situationen streiten, beeinflussen bzw. regeln sie selbst. Dabei besitzen vor allem Grenzüberschreitungen des (vermeintlich) Akzeptierten das Potential, das Streiten über das Streiten zu befeuern. In der Ausstellung und im Begleitkatalog blickt ein interdisziplinäres Team von Expertinnen und Experten anhand exemplarischer Streitfälle und -felder auf diese rote Linie.

‘Streit um die Hosen‘ unter Eheleuten, Kupferstich, Paris, frühes 18. Jahrhundert, Foto: Museum Wilhelm Busch, Hannover

Anlass und Fragen

Konkreter Anlass für die Ausstellung ist die 300jährige Wiederkehr der Ausweisung Christian Wolffs aus Halle und der diesem Akt zugrundeliegende Streit zwischen dem Philosophen, der pietistisch geprägten Theologischen Fakultät der Universität sowie dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. Für das 18. Jahrhundert stellt sich genauso wie für unsere Gegenwart die Frage nach dem Handeln im Streit: Wie gestalteten und gestalten sich Streitsituationen in unterschiedlichen Räumen und Konstellationen? Und wie wurden und werden sie durch Medien abgebildet, verbreitet und beeinflusst?

Die Ausstellung nimmt keine Einteilung in eine legitime „gute" Streitkultur und eine illegitime „schlechte" Streitunkultur vor. Vielmehr ist es das Anliegen, soziale, mediale, sprachlich-rhetorische und körperliche Mechanismen sowie Folgewirkungen aufzuzeigen. Als Grundlage dafür dient das Konzept der Invektivität, das den Blick auf Phänomene der Auseinandersetzung, Herabsetzung, Schmähung etc. richtet. Viele Streitfelder – gestern und heute – sind durch Beleidigungen und Hasskommentare charakterisiert, sie sind Orte invektiver Handlungen. Die Ausstellung soll zum Nachdenken und Diskutieren über das Streiten selbst sowie über Unterschiede und Verbindungslinien zwischen dem 18. Jahrhundert und heute anregen.

Die sechs Ausstellungsräume sind in Form von Streitarenen organisiert: Marktplatz, Universität, Hof, Screen, Sound Stage und Fußballstadion. In jeder Arena werden exemplarische Streitfälle inszeniert mit Objekten, Sounds, interaktiven Inhalten und Bildschirmen, die über sich selbst hinausweisen. In der ersten Streitarena, dem „Marktplatz", einem der zentralen städtischen Orte der Frühen Neuzeit für Kommunikation, Streitgeschehen und Strafpraxis, wird unter anderem der „Streit um die Hosen" geführt: Auf historischen Grafiken ringen Mann und Frau um die Hosen als Sinnbild für die Herrschaft in Beziehung und Haus. Die Arena „Universität" widmet sich dem Konflikt um Christian Wolff und die Höfe bilden die dritte frühneuzeitliche Streit­arena, in der Voltaire und Friedrich II. als Schmähende zu Wort kommen. Waren sie Orte einer aufgeklärten Streitkultur oder vielmehr Arenen machtpolitischen Intrigierens?

Streit als öffentliche Performance: (Selbst-)Inszenierung einer TikTok-Nutzerin in einem Video-Clip, Screenshot: YouTube-Kanal ‘MORE TOP TikTok‘

Dem 18. Jahrhundert werden drei zeitgeschichtliche Streitarenen gegenübergestellt. Diese beginnen mit dem Raum „Screen": Mittels unterschiedlicher Bildschirmformate werden prägnante Beispiele aus Kino, Fernsehen und Social Media in den Blick genommen. Dabei wird deutlich, dass sich fiktionale Spielfilme und nicht-fiktionale Inhalte wie TV-Talkshows sowie Social Media-Beispiele gegenseitig beeinflussen, wodurch medienübergreifend typische Streitstile entstehen. Die „Sound Stage" widmet sich den akustischen Streitkulturen. In ihr wird ein Bogen vom klassischen Konzertsaal über Rock und Pop bis hin zu auditiven Äußerungen von sozialen Konflikten geschlagen. Mit dem Fußballstadion, der dritten Streitarena der Gegenwart, die permanent in den Medien präsent ist, kommt ein Raum des Streitens in den Blick, der mit seiner kontroversen Fankultur hierfür berühmt und berüchtigt ist.

Reflexion und Miteinander

In der Ausstellung verbindet die beiden Flügel ein zentraler Auftaktraum. In einem Streit-Karaoke können die Besuchenden darin selbst ganz unmittelbar in Streitgespräche eintauchen. Die Installation soll die Frage nach dem eigenen Streitverhalten stimulieren, ebenso wie eine am Eingang zur Ausstellung präsentierte Holzskulptur aus der Mitte des 18. Jahrhunderts: Die Figur, die ursprünglich als Verzierung an einem Schlitten angebracht war, geht auf ein Bildmotiv zurück, das im späten 17. und 18. Jahrhundert europaweit Verbreitung fand: den „Vogel Selbsterkenntnis", eine Mensch-Vogel-Metamorphose.

‘Vogel Selbsterkenntnis‘, figuraler Schlittenkopf aus Laubholz, Süddeutschland, Mitte 18. Jahrhundert, Foto: Bayerisches Nationalmuseum, München

Aus einem menschlichen Haupt, das von gefiederten Flügeln umschlungen ist, wachsen der Hals und Kopf eines Vogels und dessen Schnabel wiederum zwickt die Person in die Nase. Der „Vogel Selbsterkenntnis" führt einen zentralen Aspekt beim Streiten über das Streiten vor Augen: das Sich-an-die-eigene-Nase-Fassen, die kritische Selbstreflexion. Denn für uns alle stellt sich die Frage, wie wir zu streiten bereit sind.

Claudia Weiß | Wissenschaftliche Projektkoordination,
Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen

Prof. Dr. Holger Zaunstöck | Leiter Stabsstelle
Forschung der Franckeschen Stiftungen


Franckesche Stiftungen zu Halle
Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute

18. März 2023 bis 4. Februar 2024
im Historischen Waisenhaus

www.francke-halle.de/de/ausstellung/streit

 

AsKI kultur leben 1/2023

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