Die Gemeinschaft der Heiligen - Der Figurenzyklus an der Katharinenkirche zu Lübeck und das monumentale Werk Ernst Barlachs

Ernst Barlach, Gerhard Marcks, Die Gemeinschaft der Heiligen (realisiert 1930-32 und 1946-48) Westfassade der Katharinenkirche zu Lübeck, Foto: Gerhard Marcks-Haus, Bremen

Eine Ausstellung im Gerhard Marcks-Haus, Bremen

Unter dem Titel "Die Gemeinschaft der Heiligen" werden vom 14. Oktober 2001 bis zum 6. Januar 2002 im Bremer Gerhard Marcks-Haus die vor 1933 ausgeführten überlebensgroßen Figuren von Ernst Barlach und die nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 bis 1948 von Gerhard Marcks ergänzten Figuren für die Fassade der Lübecker Katharinenkirche erstmals in einer Ausstellung zusammengeführt.

Ernst Barlach, Frau im Wind, Terracotta, 1932, Katharinenkirche zu Lübeck, Foto: Gerhard Marcks-Haus, BremenIm Werk beider Bildhauer bilden diese außerordentliche Höhepunkte. Der heute aus insgesamt neun Figuren bestehende Zyklus, von denen drei aus der Hand Barlachs und sechs von Marcks stammen, wird um Denkmale, Mahnmale und Grabmale in Güstrow, Magdeburg, Kiel und Hamburg sowie um unausgeführte Vorhaben des wohl bekanntesten deutschen Bildhauers des 20. Jahrhunderts ergänzt, die als Werkmodelle und Entwürfe zu sehen sein werden. Aus dem Lebenswerk Barlachs ragen diese Vorhaben heraus: Sie erreichen monumentale Maße, haben künstlerisch einen besonderen Rang und sind gedanklich und entwicklungsgeschichtlich Voraussetzungen für den Entwurf des Figurenzyklus in Lübeck.

Im Jahre 1929 trat der Kunsthistoriker und damalige Museumsdirektor Carl Georg Heise an Ernst Barlach heran und bat diesen, für die Westfassade der Katharinenkirche lebensgroße Figuren zu schaffen. Als Direktor des St.-Annen-Museums war er damals nicht nur für dieses, sondern auch für andere Abteilungen, darunter auch für die ehemalige Klosterkirche des Franziskanerordens, verantwortlich. Dieser architektonisch bedeutende Backsteinbau war im 14. Jahrhundert errichtet und mit einer aufwendigen Fassade geschmückt worden, die eine doppelte Reihe von Blendnischen oberhalb der Portalzone zeigt. In sechzehn freien Nischen sollten nach Heises Plan ebenso vie le Figuren zur Aufstellung kommen, die eine "Gemeinschaft der Heiligen als Repräsentanten der Menschheit" bilden würden. Gemeint waren nicht etwa Figuren von Heiligen und Aposteln, wie sie von mittelalterlichen Kirchenportalen hinlänglich bekannt sind, sondern "die Gottsucher der leidenden Menschheit: vom stillbeglückten Pilger bis zum Gefangenen, der seine Seligkeit sucht im aufrührerischen Trotz gegen die Ketten" (Heise). Barlach ließ sich für dieses außergewöhnliche Großprojekt gewinnen, obwohl dessen Finanzierung auf wenig solider Grundlage stand und er selbst die Überforderung seiner Kräfte befürchtete. Kaum ein Thema und kaum eine Aufgabe dürfte indessen der künstlerischen Auffassung und der menschlichen Überzeugung Barlachs mehr entsprochen haben, als die Idee des Lübecker Museumsdirektors. Für alle Figuren versuchte Heise "Stifter" zu finden, die eine zweite Ausführung des von ihnen finanzierten, in Terrakotta ausgeführten und schließlich an der Fassade aufgestellten Werkes erhalten sollten.

Gerhard Marcks, Schmerzensmann Terracotta,1947 Katharinenkirche zu Lübeck, Foto: Gerhard Marcks-Haus, BremenDas gelang für drei der sechzehn Werke: Bis Ende 1932 waren diese Figuren in Ton modelliert, gebrannt, fertig gestellt und in der Preußischen Akademie der Künste in Berlin erstmals der Öffentlichkeit präsentiert worden. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten verhinderte die Fortführung des Plans: Sein Initiator Carl Georg Heise wurde Ende September 1933 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Die fertig gestellten Figuren konnten wohl eine Zeit lang im Chor der Katharinenkirche aufgestellt, mussten jedoch im Verlaufe der nationalsozialistischen Kampagne gegen die "Entartete Kunst" im Jahre 1936 dort wieder entfernt werden. Es gelang, ihre Verbringung nach Berlin und ihre Zerstörung zu verhindern. Sie überlebten den Krieg in einem geheimen Versteck. Als Barlach 1938 starb, hatten die ser und Heise bereits einen Vollender des Figurenzyklus in Erwägung gezogen, wenn auch an eine Wiederaufnahme der Bemühungen vorerst nicht zu denken gewesen war: Gerhard Marcks. Seit dem Herbst 1946 beschäftigte sich Marcks mit der Fortführung des Figurenzyklus. Sein Entwurf sah, abweichend von der ursprünglichen Absicht Heises, die Fertigstellung von weiteren sechs Figuren vor, die seit 1949 mit den schon zwei Jahre zuvor aufgestellten drei Figuren Barlachs die Fassade von St. Katharinen schmücken.

Die großen Denkmal- und Mahnmalvorhaben des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik haben die Tradition des 19. Jahrhunderts oft ungebrochen weitergeführt. Demgegenüber bieten die von Ernst Barlach geschaffenen monumentalen Plastiken - darunter nicht zuletzt die ausgeführten und entworfenen Figuren des Lübecker Vorhabens - eine außerordentliche Durchdringung ihres Themas. In der Form brechen sie mit der bis dahin bestimmenden Tradition in Deutschland. An keinen anderen Werken lässt sich so aufschlussreich der radikale Bruch verdeutlichen, den die Moderne für die Frage des Denkmals und der Kunst im öffentlichen Raum herbeigeführt hat. Die sich aus den Werken Barlachs ergebenden Folgerungen wirken bis in gegenwärtige Projekte hinein.

An einer aussagekräftigen Auswahl von sowohl ausgeführten und als auch geplanten, dann aber nicht verwirklichten Vorhaben Ernst Barlachs soll die Entstehungsgeschichte, die Form, die Symbolik und die historische Bedeutung der Figuren an der Lübecker Katharinenkirche im Zusammenhang seiner Denkmale, Mahnmale und Grabmale anschaulich vorgeführt sowie die künstlerische Entwicklung seines monumentalen Werkes nachgezeichnet werden. Etwa 40 plastische Werke - darunter die lebensgroßen Figuren für die Lübecker Fassade, deren Zweitausfertigungen sich heute im Besitz der Ernst Barlach Stiftung und des Gerhard Marcks-Hauses befinden - sowie 90 Zeichnungen und Graphiken aus verschiedenen öffentlichen und privaten Sammlungen werden in ihr vereinigt und vermitteln erstmals im Zusammenhang ein umfassendes Bild des Bildhauers Ernst Barlach als Schöpfer monumentaler Plastik.

Die Ausstellung entsteht in engster Zusammenarbeit des Gerhard Marcks-Hauses mit der Ernst Barlach Stiftung in Güstrow. Die norddeutschen Bildhauermuseen sind in besonderer Weise durch den Lübecker Figurenzyklus miteinander verbunden, der im Lebenswerk ihrer Namenspatrone das Hauptwerk bildet. Im Anschluss an Bremen wird sie von Februar bis September 2002 in Güstrow und ab Herbst 2002 auch im Georg-Kolbe-Museum in Berlin Station machen. Es erscheint ein umfangreicher, von Volker Probst und Jürgen Fitschen herausgegebener Katalog mit Beiträgen zahlreicher Fachkollegen und einer Dokumentation aller ausgestellten Werke.

Gleichzeitig findet in der benachbarten Kunsthalle Bremen, die mit der Stiftung Kurt Reuttis eine der größten Barlach-Sammlungen Deutschlands besitzt, die Ausstellung "Ernst Barlach - ,Kaviar statt Brot' / Kurt Reutti - Sammler und Stifter" (14. Oktober 2001 - 20. Januar 2002) statt, in der insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Barlachs Graphik und Plastik gezeigt werden.

Dr. Jürgen Fitschen
Direktor des Gerhard Marcks-Hauses, Bremen

AsKI KULTURBERICHTE 2/2001

.

xxnoxx_zaehler