Deutsches Literaturarchiv Marbach : Über das Zubereiten von Archivalien

Das Archiv des Suhrkamp Verlags nach seiner Ankunft in den unterirdischen Marbacher Magazinen, Foto: Korner/DLAArchive präsentieren der Öffentlichkeit ihre Schätze in Lesesälen, mittels Datenbanken und Homepages. Man kann sie mit Restaurants vergleichen. Der Lesesaal funktioniert wie ein Speisesaal, in dem eine geschulte Bedienung Bestellungen entgegennimmt, berät, aufträgt und dafür sorgt, dass die Gäste möglichst viel konsumieren, lange bleiben und sich wohl fühlen.

 Die Datenbank vertritt die Speisekarte, aus der die Gäste in Ruhe auswählen und sich ein Menü zusammenstellen können. Die Homepage wird als Mittel genutzt, das Unternehmen und seine vielfältigen Angebote zu preisen und möglichst viele Besucher anzulocken. Wer die Anreise scheut, wird im Rahmen der Möglichkeiten auch zu Hause beliefert.

Aber was geschieht in der Küche? Wie werden die Speisen zubereitet? Wie werden die Rohstoffe ausgewählt und auf welchen Wegen kommen sie ins Haus? Anlieferung, Vorratsräume und Küchen sind für die Gäste normalerweise tabu, nichts
soll den schönen Schein der Perfektion stören. Vor allem soll vermieden werden, dass das Personal in den Hinterzimmern, ohne deren rastlose Tätigkeit der Laden nicht laufen würde, die Arbeit unterbrechen muss, um laienhafte Fragen zu beantworten und zu erklären, was selbstverständlich scheint, weil es sich in der täglichen Praxis bewährt hat.

Auch Archive gewähren nur selten tiefere Einblicke in das, was hinter den Kulissen geschieht. Von dieser Regel wird hier ausnahmsweise abgewichen: Am Beispiel der Archiv-Abteilung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach soll skizziert werden, wie Vor- und Nachlässe von Autorinnen und Autoren oder Verlagsregistraturen ins Archiv kommen und was mit ihnen geschieht, bevor sie in die Datenbank und in den Lesesaal gelangen.

Der Sammelauftrag des Deutschen Literaturarchivs umfasst herausragenden Zeugnisse der deutschsprachigen Literatur- und Ideengeschichte seit der Aufklärung. Längst nicht alle Erwerbungsangebote können jedoch angenommen werden. Regelmäßig werden Offerten der Auktionshäuser und Antiquare ausgeschlagen, viele Nachfragen von Autoren und Autorinnen oder deren Erben, ob das Archiv interessiert wäre, müssen mit Nein beantwortet werden. Würden wir nicht widerstehen, würde das Archiv schnell in einer Flut der Zusendungen ertrinken. Die
Kapazitäten – die Räume, Finanzen und Erschließungskräfte – sind begrenzt. In Kürze beziehen wir ein zweites Ersatzmagazin, die Planungen für einen Neubau haben bereits begonnen.

Wenn wir uns dafür entscheiden, einen Vor- oder Nachlass zu erwerben, weil alle Kriterien erfüllt sind, die unser detailliertes Sammlungskonzept vorschreibt, heißt das keineswegs, dass wir alles Vorhandene übernehmen. Meist wird im Gespräch mit den Autoren und Autorinnen oder mit deren Erben vor Ort entschieden, was archivwürdig ist, das heißt für die künftige Forschung interessant sein könnte. Steuerakten, Reparaturrechnungen oder Werbesendungen werden in der Regel aussortiert, ganze Bibliotheken können wir nur sehr selten erwerben, meist müssen wir uns auf besonders wichtige Arbeits- und Widmungs­exemplare beschränken. Andererseits lohnt sich fast immer die Nachfrage nach Keller- und Dachräumen, nach alten Fotos, Computern oder Disketten. Beim Einpacken der ausgewählten Dinge wird darauf geachtet, dass Zusammen­gehöriges nicht auseinandergerissen wird.

Der Nachlass des Philosophen Hans-Georg Gadamer nach Abschluss der ersten Ordnungsphase, Foto: Korner/DLA

Sobald die Umzugskartons im Archiv angekommen sind, wird zunächst der konservatorische Zustand überprüft. Das Entfernen von Staub, Folien, Klammern und anderen Fremdkörpern gehört zu den ersten restauratorischen Maßnahmen, welche die nun beginnende Arbeit der Erschließung begleiten. Dafür werden die potentiellen Archivalien auf möglichst großen Tischen ausgebreitet. Vorgefundene Ordnungen werden beibehalten, ansonsten wird wenigstens grob eine erste Ordnung nach einem bewährten Schema hergestellt: Manuskripte werden von Briefen getrennt, diese soweit möglich nach Korrespondenzpartnern sortiert. Drucksachen, Tonträger, Bilder, Erinnerungsstücke oder Computer werden in dafür spezialisierte Abteilungen und Referate abgeben. Gelegentlich zeigt sich erst in diesem Stadium der Arbeit, dass einzelne Teile für das Archiv doch nicht geeignet, da für die Forschung irrelevant sind. Sie werden dann, das Einverständnis der Vorbesitzer vorausgesetzt, „kassiert" – also fachgerecht entsorgt. Die schriftlichen Archivalien werden zunächst grob sortiert, in konservatorisch einwandfreie Mappen verpackt, in Kästen einsortiert und in den klimatisierten Magazinen untergebracht. Dann wird der Inhalt des Neuzugangs kursorisch in der Datenbank beschrieben, so ist eine erste Benutzung schon vor der Feinordnung möglich.

Die Feinordnung und detaillierte Verzeichnung der einzelnen Dokumente kosten die meiste Zeit. An einem durchschnittlich großen Nachlass von 100 Kästen arbeitet eine qualifizierte Fachkraft zwei bis drei Jahre. Die einzelnen Dokumente werden nach einem Regelwerk beschrieben, das seit etwa 120 Jahren, seit der Gründung des Schiller-Nationalmuseums, aus dem 1955 das Deutsche Literaturarchiv hervorgegangen ist, ständig verbessert, verfeinert, vereinfacht und neuerdings auch an nationale und internationale Standards angeglichen wird.

Als die Zettelkästen um die Jahrtausendwende durch eine Datenbank abgelöst werden sollten, zeigte sich, dass die Erschließungsregeln bereits einen solchen Komplexitätsgrad erreicht hatten, dass eine eigene Datenbank entwickelt werden musste.

Im Grunde ist die Erschließung eines Nachlasses ein hermeneutischer Prozess. Zunächst versteht man wenig, doch nach und nach erklären sich die einzelnen Teile gegenseitig. Durch geduldiges Vergleichen lässt sich eine zunächst unverständliche Notiz schließlich doch einem Werk zuordnen oder ein Kosename dechiffrieren. Wie von selbst taucht man immer tiefer in das Leben und Werk des Autors oder der Autorin ein. Die Ermittlung von Entstehungsstufen, die Individualisierung von Personen oder die Beschreibung von Fotos und Gemälden setzen oft Forschungen von durchaus wissenschaftlichem Niveau voraus. Gemäß Regelwerk kann jedoch nie das gesamte erworbene Wissen in die Datenbank und die verknüpften Normdaten für Personen, Körperschaften und Werke eingehen. Manches, für das keine Kategorie vorgesehen ist, bleibt im Kopf des Bearbeiters oder der Bearbeiterin.

Nach Abschluss der Erschließungsarbeiten können Interessierte weltweit bequem in der Datenbank nachsehen, welche Werke oder Briefe eines Autors im Archiv vor­handen sind. Aber viele Hintergründe und verborgene Zusammenhänge weiß nur, wer den Nachlass jahrelang geordnet und verzeichnet hat. Kluge Archivgäste kümmern sich nicht um scheinbare Tabus und suchen das Gespräch mit dem Küchenpersonal, das heißt mit den hochqualifizierten Fachleuten, die die Archivalien zubereitet haben.

 Dr. Ulrich von Bülow | Leiter der Abteilung Archiv
Deutsches Literaturarchiv Marbach

 

AsKI kultur leben 1/2022

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