Deutsches Literaturarchiv Marbach: „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie" im Literaturmuseum der Moderne

Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie

„Hölderlin ist eine dem Deutschen verwandte Sprache"

(Oskar Pastior, 1995)

 

Poetische Texte – das ist bei Gedichten am offensichtlichsten – gleichen Körpern, besitzen so etwas wie Oberfläche und Tiefe, Mitte, Ränder und Grenzen, Oben und Unten, Vorne und Hinten, sind Umriss, Schema und Füllung. Wir rücken ihnen, wenn wir uns mit ihnen näher beschäftigen, oft mit Fingern und Stiften zu Leibe und zählen Zeichen und Klänge, Buchstaben, Silben, Vokale, Versfüße, Reime, Wörter, Zeilen, Sätze, Figuren, Orte, Motive, Handlungsfäden und Bedeutungsebenen. Dieses poetisch-analysierende, zwischen Nähe, Tiefe und Ferne skalierende Lesen ist das Gegenteil zum Lese-Flow, zur hingebungsvollen und identifikatorischen Lektüre. Der 29-jährige Friedrich Hölderlin etwa las Schillers Dramen 1799 ein zweites Mal, um sie, wie er Schiller schreibt, „mit Verstand zu lesen" und sich auf den „inneren Bau" zu konzentrieren – sein Gegenmodell zum selbstvergessenen Eintauchen in Literatur: „Don Carlos war lange Zeit die Zauberwolke, in die der gute Gott meiner Jugend mich hüllte, daß ich nicht zu frühe das Kleinliche und Barbarische der Welt sah, die mich umgab." Über 110 Jahre später beschrieb der russische Literaturwissenschaftler Viktor Šklovskij die „Spürbarkeit des Aufbaus" als Kennzeichen der Poesie: „Die poetische Sprache unterscheidet sich von der prosaischen dadurch, dass ihr Aufbau spürbar wird."

In der Ausstellung „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie" im Literaturmuseum der Moderne werden wir dieses poetische Lesen am Beispiel von Hölderlins Gedichten aus unterschiedlichen Perspektiven erkunden. Die Bestände des Deutschen Literaturarchivs Marbach zum 18., 19. und 20. Jahrhundert werden dabei genauso einbezogen wie Methoden der digitalen Literaturanalyse und der empirischen Erforschung von ästhetischer Erfahrung. Mit über 150 Objekten und Stationen, die wir zu fünf Kapiteln geordnet haben, erstreckt sich die von der Baden-Württemberg Stiftung geförderte Ausstellung über nahezu alle Räume des Museums.

Zählen.
Hölderlin mit den Fingern lesen

Hier ist das 1804 zum ersten Mal veröffentlichte Hölderlin-Gedicht „Hälfte des Lebens" als interaktives Poesiemodell mit zwei Ansichten (Text oder Struktur) und einem Klangkörper in den Raum gestellt, um für alle Besucher die vielfältigen Möglichkeiten zu eröffnen, mit denen wir Gedichte lesen können. Ergänzend erweitern digitale Analysen von Hölderlins Gedichten unseren Blick darauf. Welche Wörter stehen bei Hölderlin am Versanfang, welche Reimwörter am Versende, welche Farben, Pflanzen und Tiere erscheinen bei ihm, was macht er mit Versgrenzen und Satzzeichen? Im ganzen Museum können zu 36 Wörtern in „Hälfte des Lebens" Postkarten mit weiteren Informationen eingesammelt werden, von „gelb" und „Birnen" bis zu „sprachlos" und „klirren". Drei dieser Wörter finden sich bei Hölderlin nur in diesem Gedicht, „sprachlos" erscheint nur ein weiteres Mal: „Und er, der sprachlos waltet, und unbekannt / Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist / Im Menschenwort, am schönen Tage / Wieder mit Namen, wie einst, sich nennet." Die digitalen Analysen werden wir im Lauf der Ausstellung im Rahmen eines Hackathons (u.a. in Kooperation mit den Universitäten Potsdam, Stuttgart, Heidelberg und Würzburg) sowie durch eigene Forschungen erweitern.

Eduard Mörikes Abschrift (1846) von Hölderlins Ode ‚Heidelberg‘ mit ‘sämmtlichen Correcturen‘, DLA Marbach

Verstehen.
Hölderlin in der Handschrift lesen

24 Gedichte von Hölderlin aus den Beständen des Deutschen Literaturarchivs stehen hier im Mittelpunkt. Verstehen heißt im Falle der Handschrift zunächst einmal entziffern können, was da steht. In einem zweiten Schritt kommt eine detektivische Spurenlese dazu: Wer hat wann was warum für wen geschrieben? Womit und in welchem Tempo? Was wurde gestrichen, was fehlt, was gehört zu welchem Text und zu welcher Fassung eines Textes? Wir haben diese Handschriften chronologisch geordnet, transkribiert und kommentiert, von den frühen Stammbuchversen über die Hymnen bis zu den späten Scardanelli-Gedichten, ergänzt um eine Tonspur, die Hanns Zischler eingelesen hat.

Hölderlins Notation einer sapphischen Odenform im ‚Stuttgarter Foliobuch‘ und seine ‚Hälfte des Lebens‘ – gesprochen und mit dem Oszilloskop aufgezeichnet ()., © Württembergische Landesbibliothek; Abb. aus dem Marbacher Halbjahresprogramm 1/2020

Spüren.
Hölderlin im Labor lesen

Was passiert mit uns und unserem Körper, wenn wir Hölderlins Gedichte lesen: Was machen die Augen, was die Stimme, der Atem und die Haut? Wie übersetzen wir Gedichte in Gesten? Wie reflektieren wir ästhetische Erfahrungen? Was davon unterläuft uns automatisch, was machen wir bewusst, inszenieren es vielleicht auch, weil wir denken, es wird von uns erwartet? Was bewirkt dann diese Inszenierung wiederum bei uns? Wie subjektiv oder auch unoriginell lesen wir? Wie viele Hölderlin-Leser-Typen gibt es? In fünf Laborstationen können Sie uns helfen, anhand von einfachen und kurzen Experimenten erste Antworten zu finden. Wieder steht „Hälfte des Lebens" im Mittelpunkt. Die Laborstationen im Einzelnen: a) Wir lesen Gedichte nicht nur von links nach rechts, sondern auch kreuz und quer und vertikal – doch welche Bewegungsmuster zeichnet ein Eyetracker auf, wenn wir Gedichte lesen? , b) Wenn uns Gedichte berühren, reagieren wir körperlich darauf – verändert sich tatsächlich unser Hautwiderstand beim Lesen, spannen wir uns an oder entspannen wir uns?, c) Jedes Gedicht hat eine eigene, besondere Stimme – aber sprechen wir alle ein Gedicht gleich, werden wir an denselben Stellen höher, tiefer, leiser, lauter?, d) Gedichte sind eine performative Gattung – wie übersetzen wir ein Gedicht in Gesten? , f) Wer mehr weiß, sieht mehr – verändern Reflexion und Wissen unsere literarische Erfahrung? Wie wichtig sind dabei die Handschrift (das Original) und die biografische Erzählung? Die Ergebnisse jedes Besuchers werden in den Raum projiziert, gespeichert und zusammen mit der Universität Tübingen und dem Leibniz-Institut für Wissensmedien im Rahmen eines Leseforschungsprojekts ausgewertet.

Verdichten.
Hölderlin im Archiv lesen

Hölderlin hat wie kein zweiter deutschsprachiger Dichter das Bild geprägt, das wir bis heute von der Poesie haben: ein dunkles, nicht ganz verständliches, aber schönes und berührendes Sprechen eines Ichs im Ausnahmezustand. Paul Celan knüpft an diese Tradition an. Die Poesie wird ihm zum existenziellen Anliegen, das, um sich angemessen auszusprechen, höchst artifiziell und in Teilen hermetisch ist. Hölderlin wie Celan schreiben Gedichte immer wieder ab, stellen sie in persönliche Lebenszusammenhänge, widmen sie einem Menschen und datieren sie. Celan inszeniert auf dem Papier Schriftwechsel, Wortfelder und -achsen, Pausen- und Atemzeichen, Leerstellen und „zersprungene Wörter", die Hölderlin beim Schreiben zu unterlaufen scheinen, wenn er seine Gedicht schichtenweise wie eine plastische Form aus der Tiefe des Papiers herausarbeitet. Ab und zu finden sich in seinen Manuskripten noch punktierte Linien. Er muss mit der Feder den Takt aufs Papier geklopft haben. Doch wie sehen Gedichte überhaupt aus, wenn sie entstehen? Mit welchen sichtbaren Verfahren wird ein Gedicht ,verdichtet'? Was kommt von der Poesie ins Archiv? Wie wirken Hölderlins und Celans Gedicht-Manuskripte im Vergleich mit anderen? Wir haben exemplarisch die Marbacher Nachlässe gesichtet und die Fundsachen zu einem bruchstückhaften Glossar der Poesie im Archiv geordnet – von ‚Schön' und ,Nur für Dich' über ,Atmen' und ,Zerlegen', ,Formatieren' und ,Verklären' bis ,Unsicher'.

Zitieren.
Hölderlin mit anderen lesen

Hölderlins Gedichte sind zum großen Teil zu lang, um auf eine Seite zu passen. Ihre Leser suchen bei ihm daher oft das, was Celan „kompakte Stellen" genannt hat: schöne, rätselhafte, erinnerbare und für sich allein zitierbare Wortverbindungen. „Komm ins Offene", „Was bleibet aber, stiften die Dichter" und „Denn alles ist gut" sind solche Stellen. Welche Hölderlin-Worte wirkten wie auf Schriftsteller im 18., 19. und 20. Jahrhundert ? Wir haben nach Hölderlin-Zitaten in Archiv und Bibliothek gesucht. Auf dem Hölderlin-Leser Celan, dessen umfangreicher Nachlass sich im Deutschen Literaturarchiv befindet, liegt ein Schwerpunkt: Er wäre 2020 100 Jahre alt geworden. Dieses Ausstellungskapitel ist als Intervention in die bestehende Dauerausstellung zum 20. Jahrhundert realisiert. Von Celan werden u.a. sein berühmtes Gedicht „Tübingen, Jänner" gezeigt sowie das Buch, das nach seinem Suizid geöffnet auf seinem Schreibtisch lag: Wilhelm Michels Hölderlin-Biografie.

Prof. Dr. Heike Gfrereis
Leiterin der Museen und Kuratorin der Ausstellung
Deutsches Literaturarchiv Marbach


Literaturmuseum der Moderne –
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie
19. März bis 29. November 2020
Derzeit geschlossen.
www.dla-marbach.de
Katalog: „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie"
 hg. von Heike Gfrereis, Marbach a.N.
 Deutsche Schillergesellschaft
 331 Seiten, 132 farbige Abb.
 20 €
 ISBN 978-3-944469-50-8

 

AsKI KULTUR lebendig 1/2020

.

xxnoxx_zaehler