Max-Reger-Institut - Elsa-Reger-Stiftung, Karlsruhe: ‘Zimelie der Reger-Überlieferung‘ endlich in der Sammlung des Max-Reger-Instituts

Max Regers Autograph der Phantasie und Fuge über B-A-C-H für Orgel op. 46, erworben im Mai 2017, Foto: Max-Reger-Institut – Elsa-Reger-Stiftung, Karlsruhe

„Wo anders sollte die Handschrift eine neue Heimat finden, als bei Ihnen?" lautete die rasche positive Antwort der Berthold Leibinger Stiftung, als das Max-Reger-Institut (MRI) im April 2017 um eine Unterstützung beim Erwerb von Max Regers Autograph der Phantasie und Fuge über B-A-C-H für Orgel op. 46 bat.

In der Tat sollte sich damit eine Lücke schließen, die wir noch im Jubiläumsjahr 2016 schmerzlich empfunden hatten: Als das MRI im Leipziger Bach-Museum in einer Ausstellung unter dem Titel „Alles, alles verdanke ich Bach" die auf Johann Sebastian Bach bezogenen Werke Regers – darunter Choralvorspiele und -phantasien, Fugen, Passacaglien sowie Bach-Bearbeitungen – präsentieren durfte, fehlte die zentrale Hommage-Komposition, die nun aus Privatbesitz als letzte der für seinen Freund und Thomasorganisten Karl Straube geschriebenen Orgelhandschriften in die Sammlung des MRI gelangte. Ermöglicht wurde der Erwerb zu gleichen Teilen von der Berthold Leibinger Stiftung, der Kulturstiftung der Länder und dem Erbe unserer im April 2015 verstorbenen Gönnerin Marion Reichenbach, die das Institut und seine Konzerte aus seiner Bonner Zeit kannte und es, ohne uns das je mitzuteilen, zu ihrem Erbe eingesetzt hatte.

Agostino Raff »La città onirica di Max Reger:  Introduzione e passacaglia in Re min. WoO IV/6« aus dem Jahre 2016, Schenkung 20.3.2017, Foto: Max-Reger-Institut – Elsa-Reger-Stiftung, Karlsruhe

Fast zeitgleich war auch die Kunstsammlung des MRI um bedeutende Stücke gewachsen: Der römische Maler, Architekt, Dichter und Komponist Agostino Raff (*1933) übersandte dem Institut ohne Vorankündigung zwei Reger-Gemälde und setzte damit die Reihe seiner großzügigen Schenkungen fort, die er 1973 zum 100. Geburtstag des Komponisten begonnen hatte: Mit dem an die Form eines Flügelaltars gemahnenden Triptychon über die Choralphantasie „Wachet auf, ruft uns die Stimme" hatte er sich erstmals malerisch mit Regers Œuvre auseinandergesetzt und einen der heute bekanntesten Beiträge der Reger-Ikonographie geschaffen. Nun setzte er die Reihe fort mit einem 2002 entstandenen Gemälde, das den verzweifelten Reger beim Zusammenbruch der Twin Towers – als Torri organo d'America bezeichnet – darstellt, wozu ihn die große Expression der Werke Regers und ihre stete Auseinandersetzung mit der Unausweichlichkeit des Todes inspiriert haben mag. Ein weiteres Gemälde „Città onirica di Max Reger" entstand 2016 im 100. Todesjahr Regers: Es wurde von der Introduction und Passacaglia d-moll WoO IV/6 angeregt, jenem Werk, das Maestro Raffs große Liebe zu dem deutschen Komponisten entfacht hatte. Der Engel – ein Caravaggio-Zitat – über Regers Traumstadt symbolisiert die Inspiration, verstanden als Erscheinen des Himmlischen auf der chaotischen Erde. Das Band in seiner Hand nennt die Tonbuchstaben b-a-c-h und damit die Quelle lebenslanger Inspiration.

Wie kann man das große Glück eines Manuskripterwerbs besser feiern als mit dem Erklingen der in der Handschrift festgehaltenen Komposition? Am 11. Juli 2017 lud das MRI zu einem Dank-Konzert in Stadtkirche Karlsruhe-Durlach ein. Als Interpret konnte einer der führenden Orgelvirtuosen Italiens und zugleich einer der besten Kenner des Reger'schen Orgelschaffens gewonnen werden: Roberto Marini, Orgelprofessor am päpstlichen Institut für Kirchenmusik in Rom und zugleich am Konservatorium in Pescara, leistet seit langem wahre Missionsarbeit; so hat er das gesamte Œuvre nicht nur innerhalb eines Jahres in Italien in 16 Konzerten aufgeführt, er hat es auch zum Regerjahr 2016 komplett auf 17 CDs herausgebracht, beides gigantische und hochgelobte Unternehmen.

Zum Gesamtkunstwerk wurde der Abend dadurch, dass nicht nur die kalligraphisch schöne und deutlich lesbare Notenhandschrift, sondern auch die gesamten dem MRI überlassenen Gemälde Agostino Raffs im Altarraum ausgestellt wurden; auch der Maler war trotz seiner 84 Jahre aus Rom angereist und hielt sogar eine Ansprache in deutscher Sprache. Grußworte steuerten auch der Erste Bürgermeister der Stadt Karlsruhe, Wolfram Jäger, und der Stellvertretende Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, Prof. Dr. Frank Druffner bei. Dass diese das MRI nun schon seit zwanzig Jahren immer wieder bei Manuskriptkäufen tatkräftig unterstützt, war ein weiterer Grund zum Feiern.

Geboten wurde ein musikalisches Programm voller Beziehungszauber. Es begann mit der Introduction und Passacaglia d-moll WoO IV/6, die beim jungen Raff die Initialzündung ausgelöst hatte. Die improvisatorische Ungebundenheit der Einleitung und die Spannung zwischen Bindung und Freiheit in der Passacaglia, zwischen einem ständig wiederholten schreitenden Bassthema und den sich darüber fantasieartig entfaltenden Stimmen, mögen ihn zur malerischen Auseinandersetzung herausgefordert haben.

Im Zentrum des Abends stand das neu erworbene Opus 46, in Regers Worten ein „Werk größten Styls und Kalibers", das sein lebenlanges Motto „Bach ist Anfang und Ende aller Musik" wie kein zweites verkörpert. Marini brachte es in eindrucksvoller, ja unter die Haut gehender Interpretation zum Erklingen; sein ebenso ausdrucksvolles wie analytisch klares Regerspiel machte nicht nur den mitreißenden Impetus, sondern auch den grandiosen Aufbau erfahrbar. Das in der Fantasie omnipräsente kreisende Motiv aus den Tönen b-a-c-h gibt durch seine Halbtonschritte die Basis wilder Chromatik; die Fuge entfaltet mit stringenter Beschleunigung bis zum fast dreifachen Tempo, Hand in Hand mit einer vom pppp bis zum fff im Pleno anwachsenden Dynamik, eine Sogkraft, der sich kein Hörer entziehen kann.

Die Aufführung bestätigte die Worte aus dem für die Kulturstiftung verfassten Gutachten des Würzburger Professors Dr. Ulrich Konrad, dass es sich hier „um eines der Hauptwerke nicht nur Regers, sondern der modernen Orgelmusik überhaupt" handelt. „Tatsächlich ist für die Orgel vor Februar 1900 [...] kaum je Musik derart kühner und grenzensprengender Art imaginiert worden." Und er schloss: „Es darf also als beinahe zwingende Verpflichtung angesehen werden, alles daran zu setzen, diese Zimelie der Reger-Überlieferung für das Karlsruher Institut zu erwerben. Dort wäre die Handschrift an ihrem optimalen Ort, dort läge sie in der Obhut der anerkanntesten Reger-Spezialisten, dort stünde sie jedem, der ein berechtigtes Forschungsinteresse anmelden kann, zur Verfügung." Und Dr. Martina Rebmann, die Leiterin der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, pflichtete dem in ihrem Gutachten bei: „Das MRI ist das einzige Institut weltweit, das Reger-Autographen in dieser Breite und Dichte seit Jahrzehnten erfolgreich sammelt" und sich „vor allem auch der wissenschaftlichen Erschließung sowie der Vermittlung der Bestände an die Öffentlichkeit durch Ausstellungen, Präsentationen sowie Publikationen widmet."

Drei kleinere Kompositionen Agostino Raffs bestätigten, dass er ein Multitalent ist, das die Kompositionstechnik beherrscht und auch in der Musik durchaus Eigenes zu sagen hat. Den Abschluss des Konzerts bildete die Choralphantasie „Wachet auf, ruft uns die Stimme" op. 52,2, die den römischen Künstler 1969 zu seinem Triptychon inspiriert hatte. Im Zentrum des Altarraums platziert, löste es bei vielen Besuchern einen Synergieeffekt aus: Die Komposition, die Reger selbst als „Programmmusik" beschrieb und die in der Tat dem Choraltext Wort für Wort folgt, beschwört in der Einleitung mit düsteren Klangfarben die Assoziation eines Kirchhofs herauf, in dem sich die Toten am Tag des jüngsten Gerichts zu regen beginnen; die klare Choralmelodie bricht wie ein Weckruf in die Dunkelheit herein. In der zweiten Strophe taucht Reger die Worte „und feiern mit das Abendmahl" in mystisches Dunkel, während er die Schlussworte der dritten Strophe „Des jauchzen wir und singen Dir / das Halleluja für und für" in hellem Jubel über dem kontrapunktischen Stimmengeflecht einer Fuge erstrahlen lässt. Diese großangelegte und schwungvolle Steigerung bestimmt auch die malerische Komposition mit ihren aufsteigenden Diagonalen.

Alle Anwesenden waren sich einig, einen Abend voller Beziehungszauber erlebt zu haben, in dem sich nicht nur erklingende und notierte Musik, sondern auch Musik und Malerei wechselseitig wunderbar erhellten. Und Roberto Marini, nach Italien zurückgekehrt, bekannte: „L'emozione che ho provato nel toccare e poi suonare vicino al manoscritto è stata fortissima e assolutamente incredibile. Per me è stata la realizzatione di un sogno e ancora non riesco a credere che si sia realizzato." [„Die Emotion, die ich empfunden habe, als ich das Manuskript berührte und in solcher Nähe zu ihm spielte, ist sehr stark und absolut unglaublich gewesen. Für mich hat sich ein Traum realisiert, und noch immer schaffe ich es nicht zu glauben, dass er sich realisiert hat."]

Prof. Dr. Susanne Popp
Leiterin des Max-Reger-Instituts

 

AsKI KULTUR lebendig 2/2017
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