AsKI e.V. : Rede von Guy Stern, gehalten am 9. November 1998 anläßlich der Veranstaltung „Als die Synagogen brannten. Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Pogromnacht vom 9. / 10. November 1938"

Guy Stern, geb. 1922 in Hildesheim, emigrierte als 15jähriger in die USA. Nach Studium und Lehrtätigkeit an verschiedenen amerikanischen Universitäten, u.a. an der Hofstra University, der Columbia University und an der University of Cincinnati, wurde er 1978 an die Wayne State University in Detroit berufen, wo er seit 1981 als Distinguished Professor für Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte lehrt. Wiederholt führten ihn Gastprofessuren nach Deutschland, zuletzt nach Frankfurt am Main (1993), Leipzig (1997) und Potsdam (1998).

Erinnerungen eines Zeitzeugen

Die Qualifikation zum Zeitzeugen im Sinne dieser Veranstaltung haben eigentlich viele in unserem Jahrhundert qua Geburtsort, Geburtsdatum und Lebensspanne. Das ambitiöse Wort "Zeitzeuge" könnte jedoch bei mir zuviel versprechen.

Mit völliger Berechtigung können und dürfen Persönlichkeiten wie Heinrich Mann und Stefan Zweig ihre autobiographischen Betrachtungen "Ein Zeitalter wird besichtigt" bzw. "Die Welt von gestern" zu einem Stück Zeitgeschichte ausbauen, kann und darf der vertriebene österreichische Dramatiker Franz Theodor Csokor seine weltkundigen Briefe aus dem Exil unter dem Titel "Zeuge einer Zeit" vorlegen. Aber Sie haben jedoch mich gebeten, über meine Erinnerungen als Zeitzeuge zu sprechen und ich habe Ihre Einladung, die mich ehrt, dankbar angenommen.

Ich bin 1922 in Hildesheim geboren und verstehe mich als einen Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur, der in ein Umfeld deutscher Sprache und Kultur hineingeboren wurde, und der die prägendsten Jahre seiner Kindheit und Jugend in diesem für ihn damals in keiner Weise kontroversen Ambiente verbracht hat. Allerdings nicht bis zum bitteren Ende. Andernfalls könnte ich heute mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht über meine Erinnerungen als Zeitzeuge zu Ihnen sprechen. Die Erinnerungen sind meine Erinnerungen. Sie erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie sind individuell und darum selektiv, sie sind nicht bewertbar als gut oder schlecht, als richtig oder falsch, oder, diesem Anlaß hier entsprechend, als opportun oder nicht. Sie sind, wie sie sind.

Also, ich erinnere mich:
Meine Großeltern mütterlicherseits, in den 1860er Jahren geboren, hießen noch Rebekka und Israel, meine Mutter erhielt schon den Vornamen Hedwig und wir, ihre Kinder, hießen, in der Reihenfolge unserer Geburt, Günther (der bin ich), Werner und Lore. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, daß es sich dabei um einen generationsabhängigen schroffen Umdenkungs- oder Anpassungsprozeß handele. Dem war nicht so. Mein Großvater ging zwar häufiger in die Synagoge als seine Tochter und sein Schwiegersohn, aber er war in seiner Heimatstadt Vlotho in Westfalen auch aktives Mitglied der „Freiwilligen Feuerwehr" und überhaupt ein so angesehener Bürger, daß ihm die Freiwillige Feuerwehr zu seiner Silberhochzeit ein Ständchen brachte und der Bürgermeister der Stadt bei seinem Begräbnis im Jahr 1928 die Traueransprache hielt. Als fünf- und sechsjähriger gelegentlicher Besucher meiner Großeltern sonnte ich mich im Ansehen der Familie, wenn der Bäckermeister Sturhahn beim Brötchenholen mit dem Finger auf mich zeigte und die anderen Kunden wissen ließ, daß ich einer der Silberberg-Enkel sei. Nichts hätte damals unserem Bewußtsein ferner gelegen, als diese als selbstverständlich gelebte Wirklichkeit gedanklich in Verbindung zu bringen mit heute geläufigen, allerdings auch umstrittenen Abstraktionen wie „deutsch-jüdische Symbiose" oder „jüdische Integration ins deutsche Geistesleben".

Damals, als frühreife Leseratte gelobt und gescholten, war ich gleichzeitig ein Mitglied, der jüdischen Jugendgemeinde, das vor dem Stimmbruch im Synagogenchor ein Solo singen durfte, ebenso wie ich, zusammen mit meinem Schulfreund Fritz, die jüdische Minderheit bildete im meinen Zuhörern sicher nicht unbekannten Hildesheimer Turnverein Eintracht. Wir Schüler der jüdischen Grundschule unsererseits verschwendeten auch keinen Gedanken an die Tatsache, daß wir zwei protestantische Mitschüler hatten. Für uns waren sie einfach der Arztsohn Horst und die Malerstocher und beste Zeichnerin der ganzen Schule, Eva von Rossen.
Mein aIlerbester Freund von nebenan war Günther Bokelmann. Ein tiefes gegenseitiges Mitgefühl vernand uns insofern, als er sich hinderlicherweise am Sonntag und ich mich am Schabbes in unseren jeweiligen "guten Anzug" zwängen mußten.

Ich weigere mich, diese gegenseitige selbstverständliche U n b e f a n g e n h e i t eine Symbiose zu nennen. Oder war es eine „Symbiose", daß ich noch 1932 mit meinen stimmbegabten Mitschülern aus dem Realgymnasium ab und zu den Kirchenchor von Pastor Holthusen in der Andreaskirche verstärkte oder daß der Orgelspieler in unserer Synagoge ein gläubiger Protestant war?
Oder war diese erlebte, als selbstverständlich gelebte, eben nicht reflektierte Unbefangenheit ein gefährlicher Irrtum, als in den Jahren nach 1933 zunächst vereinzelt, dann aber häufiger Gleichaltrige „Jud Itzig" hinter uns herriefen und schon 1935 ein Mitschüler in der Gesangsstunde aufstand und unseren Musiklehrer, den etwas weltfremden Herrn Kobelt, grobschlächtig aufforderte, „den Juden beim Singen urdeutscher Lieder gefälligst das Maul zu verbieten"? Ich glaube nicht (trotz Goldhagen!).
Jedoch begann damals die Unbefangenheit abzubröckeln. Die Frage unserer Identität, eine Vorstellung von Anderssein drängte sich in unser Bewußtsein. Damals begann das, was man „Rückbesinnung auf die jüdische Tradition" nennt. Es war keine plötzliche Bewußtseinsveränderung, es war ein graduell fortschreitender Prozeß.

Doch zurück zur Erinnerung an die Unbefangenheit (oder „Symbiose") der Jahre davor. So lange ich mich zurückbesinnen kann, haben wir selbstverständlich an allen jüdischen kulturellen Veranstaltungen teilgenommen. Das hinderte uns jedoch nicht an unserer Begeisterung für das deutsche Theaterleben der Weimarer Zeit. Meine Eltern hatten ein Theater-Abonnement der Vereinigung „Freie Volksbühne". Schon als Sechsjähriger, nach einer Opernaufführung in Hannover, war ich hingerissen von dem christlichen Gralsritter „Lohengrin". Dieser unziemlichen Begeisterung setzte meine Mutter auf der Heimfahrt einen Dämpfer auf, nicht etwa aus divergierender religiöser und kultureller Überzeugung, sondern mit der Bemerkung, daß es doch „nicht gerade nett war, daß er Elsa so mir nichts dir nichts im Stich gelassen hat."

Wir gedenken in diesen Tagen eines dreißigjährigen so genannten Glaubenskrieges und seines Endes durch den Westfälischen Frieden vor 300 Jahren. Heute gedenken wir der vor 60 Jahren in diesem Land brennenden Synagogen. Beides hatte Zerstörung und Mord zur Folge.

Während meiner Kindheit und Juigend in Hildesheim hingen meine Schulkameraden Horst und Eva und mein bester Freund Günther selbstverständlich am Sonntag in ihre Kirche, meine Eltern und ich ebenso selbstverständlich am Schabbes in unsere Synagoge. Sie war eine sogenannte Einheitssynagoge, d. h. man hatte einen Kompromiß zwischen den rifuellen Vorstellungen der orthodoxen, konservativen und liberalen Juden gefunden, nämlich: Orthodox war die strikte Trennung von Frauen und Männern. Meine Mutter z.B. hatte ihren festen Platz an der Balustrade, von wo aus sie bequem auf uns herunterschauen konnte, konservativ war die Zulassung einer Orgel, liberal, daß die Predigt des Landesrabbiners Abraham Lewinski auf deutsch gehalten wurde. Das letztere verhinderte jedoch nicht, daß mein Vater mich gelegentlich anstoßen mußte, wenn ich gerade am Einnicken war, ein uns bekanntes Problem der Kinder dieser Welt!

Tatsächlich erinnere ich mich eigentlich nur an e i n e Predigt. Das war schon 1936. Unser Rabbiner sprach zu dem Text „Nachtwächter, wie spät ist es in der Nacht". Er geißelte den unaufhaltsamen Weg unseres Landes in die Dunkelheit. Zwei Gestapo-Männer saßen in der letzten Reihe. Dem Rabbi geschah damals deswegen nichts. (Eine gute Freundin erzählte mir von einem wackeren deutschen Prälaten, der jede seiner Sonntagspredigten während der ganzen Nazizeit mit den Worten "Meine Zuhörer und Zuhorcher" begann. Ihm geschah sonderbaererweise auch nichts!)

Meine Erinnerung führt mich zur Gebetbuchschublade in der Synagoge, die jedes Gemeindemitglied hatte. Sie enthielt unsere Gebetsschals und die Gebetbücher mit ihren Bittgebeten um den Frieden. Die Schublade war, verwunderlich für mich, ausgelegt mit vergilbten alten Zeitungen aus dem damals nicht weit zurückliegenden Ersten Weltkrieg. "Schwere Kämpfe bei Arras und Perronne" klirrte eine der Schlagzeilen. Die jüdischen Gebetbücher mit ihren Bittgebeten um Frieden und die Reminiszenzen an den bis dahin blutigsten Kriegsschauplatz unserer Zeit! Wir beteten als als gläubige Juden in der Synagoge um den Frieden. Und gleichzeitig feierten wir, selbstverständlich, den deutschen Heldengedenktag. Wir waren ja Betroffene. Mein Onkel Felix war 1916 in Frankreich gefallen. Onkel Willy ging am Stock. Bei einem Gasangriff wurde er schwer verwundet und mußte seitdem, schwer atmend, beim Spaziergang in kurzen Abständen immer wieder ausruhen. Fragmentarische Kindheits- und Jugenderinnerungen, nachträglich in ihrer Widersprüchlichkeit erkannt, darum wohl nicht vergessen! Man muß mit ihnen leben.

Ich lebe aber auch mit den wundervollen Erinnerungen an das sinnliche und spirituelle Erleben meiner Synagoge in Hildesheim. Ich sehe sie noch vor mir, die nur i h r eigentümlichen Formen und den Akkord ihrer Farben:
inmitten spitzgiebeliger Häuser die Rundungen ihrer orientalischen Architektur,
das uns entgegenleuchtende Hellgelb ihres Äußeren,
das warme Weinrot ihrer Teppiche im Innern,
das strahlende Silber der rituellen Gefäße,
die Schnitzereien des Thoraschrankes,
die bunten Gobelins,
das geheimnisvolle Schimmern des Ewigen Lichts.

Diese Synagoge gab den prachtvollen Rahmen ab für das wichtigste spirituelle Ereignis meiner Jugend. In diesem Raum war ich, inmitten meiner großen Verwandtschaft, die aus ganz Deutschland, insbesondere aus Westfalen und Hessen angereist war, eine Hauptperson. Man feierte meine Bar-Mizwa an einem Sabbath im Januar 1935. Noch heute, um Oskar Loerke zu zitieren, „kommt der Knabe mich besuchen", jener Knabe, der damals die Empore bestieg, um sein Kapitel aus der Thora vorzusingen. Der „Knabe" erwuchs zum Mann, ein glücklicher Zufall, - der Tempel wurde im Feuer zu Schutt und Asche.
Vor einigen Jahren sprach mich anläßlich eines Gastvortrages im Ruhrgebiet ein Arzt aus Bottrop an. Er war, so stellte es sich heraus, während der Nazijahre ein Schulkamerad meines vier Jahre jüngeren Bruders Werner. Er erzählte mir folgendes, was ich hier wörtlich wiedergebe: „Wir waren bis zur Quarta zusammen, Ihr Bruder und ich, damals im Josephinum in Hildesheim. Ich und einige andere Mitschüler bewunderten ihn. Gedichte konnte er vortragen, wie kein anderer. Sogar aus den recht trivialen Gedichten, die wir damals auswendig lernen mußten, konnte er etwas herausholen. Zum letztenmal sah ich ihn am 9. November 1938. Wir hatten gerade die schlimme Nachricht gehört. Die Synagoge am Lappenberg brannte. Ihr Bruder verkroch sich während der großen Pause in eine Ecke des Schulhofes. Er heulte. Einer unserer Lehrer ging auf ihn zu, ich folgte ihm. Der Lehrer sagte zu ihm, kaum hörbar: ,Geh du man ruhig nach Hause. Ich glaube, es ist jetzt sowieso vorbei.' "
Der Lehrer sollte im furchtbarsten Sinn recht behalten. Mein Bruder und meine ganze Familie sind im Warschauer Ghetto umgekommen. Ich selbst jedoch war am 9. November 1938 nicht mehr in Hildesheim. Mit der Hilfe eines zwar unbemittelten, aber bereitwilligen Onkels in St. Louis und eines nachsichtigen Generalkonsuls in Hamburg hatte ich 1937 nach Amerika auswandern können. Nichtsahnend machte ich mich ein Jahr später, an jenem Novembermorgen 1938, von meinem neuen Zuhause aus auf den Weg zu meiner High School. Wie an jedem Wochentag kam mir unser Zeitungsjunge entgegen, wie immer rief er die Schlagzeile aus. An diesem Morgen lautete sie: „Synagogues are burning in Germany! Read all about it!" Noch heute gellt mir bei bestimmten Anlässen und an bestimmten Orten das Schreien dieses Zeitungsausrufers, zum Gebrüll verzerrt, in den Ohren.

Den Zeitungsbericht las ich dann, mit Schauder und Abscheu, aber auch mit Verwunderung darüber, daß die Welt um Deutschland herum so wenig Empörung zeigte. Ich erinnere mich jedoch, daß einige amerikanische Schriftsteller, darunter Pearl S. Buck, John Dos Passos, Eugene O'NeilI, John Steinbeck und Dorothy Thompson, die sich mehrfach zum Sprachrohr machte, einen offenen Protestbrief in den Zeitungen veröffentlichen ließen. Ich habe ihn für den heutigen Anlaß noch einmal nachgeschlagen und zitiere daraus: „Vor 35 Jahren erhob sich Amerika, um gegen den Pogrom von Kichinev im zaristischen Rußland zu protestieren. Gott erbarme sich unser, wenn wir dem menschlichen Leiden gegenüber so gefühllos sind, daß wir heute nicht mehr fähig sind, uns gegen die Pogrome des Dritten Reiches zu erheben."
Und doch waren es die Dichter, wenn es auch nur wenigen gegeben war, die das ungeheuerliche Sakrileg der Schändung und Zerstörung jüdischer Tempel in Worte fassen konnten. Ich denke an die Nobelpreisträgerin und mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Nelly Sachs und ihr Gedicht „Einer war, der blies den Schofar..." bis zuletzt, auf dem Widderhorn in der brennenden Synagoge. Nelly Sachs starb 1970. Sie erlebte es noch, dass der Schofar in den wenigen erhaltenen und neu errichteten Gotteshäusern der Juden in der BundesrepubIik wieder erschallte.
Oder aber: Auf Einladung der Bundesregierung waren meine Frau und ich im Juli 1979 in diesem Plenarsaal anwesend, als der deutsche Bundestag die Strafverfolgungsverjährung für Mord im Zusammenhang mit der Frage nach der Verfolgung von NS-Morden aufhob. Abgeordnete von CSU' und SPD, uns freundschaftlich verbunden, bekannten sich ausdrücklich uns gegenüber zu dieser in ihren Augen moralisch richtigen Entscheidung.

Fünfzig Jahre nach der von den Nazis so bezeichneten „Reichskristallnacht" hielt ich im Jahr 1988 am Lappenberg in Hildesheim eine kurze Ansprache bei der Enthüllung eines Denkmals zum Andenken an die verbrannte Synagoge. Nicht nur das von vier bekannten Bildhauern gestaltete Denkmal, auch der aufrichtige Trauer widerspiegelnde Gesang eines Schülerchors haften in meiner Erinnerung. „Ihr seid das Saatkorn einer neuen Welt", sagte ich damals den Schülern in den Worten Ludwig Uhlands, der vor 150 Jahren dem ersten freiheitlichen deutschen Parlament angehörte. Ich wiederhole sie heute für die hier anwesenden Schüler und Schülerinnen. Junge und nicht mehr so junge Deutsche, denen ich in Washington und New York, in Tel Aviv und Beer Sheva in den folgenden Jahren begegnet bin, leisten freiwillige Dienste, manche unter der „Aktion Sühnezeichen". Ich traf sie in jüdischen Waisen- und Krankenhäusern, in Holo-caust-Museen, bei der New Yorker deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau", in den Kibuzzim Is-raels.

Und damit möchte ich zurückkommen zum Anfang meiner Rede, zum Anfang meiner Erinnerungen an eine jüdische Kindheit und Jugend in Deutschland, die n o c h frei war von der Vorstellung von „Tätern" und „Opfern", die heute in unserem Bewußtsein verankert ist, mit der wir leben müssen. Müssen wir? (Denken Sie jetzt nicht laut oder leise, mit dieser Frage spielt er den Rechtsradikalen in die Haände! Nichts liegt mir ferner) Fast bin ich versucht, mit Martin Luther King zu sagen „I have a dream." Ich träume von der damals von keinerlei Bewußtsein des Andersseins getrübten Unbefangenheit des Umgangs miteinander in meiner Kindheit und Jugend. Doch zwischen damals und heute liegt der Sündenfall des Jahrhunderts, von dem wir alle so oder so betroffen sind, von dem wir wissen, den wir nicht vergessen sollen und können.
Verzeihen Sie einem Germanisten, wenn ihm dazu zwar nicht gleich Goethe, aber doch Heinrich von Kleist einfällt. Mithin", sagt dieser, „müßten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand er Unschuld zurückzufallen."
Wir haben vom Baum der Erkenntnis essen müssen, wir sind aus einem Paradies vertrieben worden, wir sind durch die Hölle gegangen, wie der Prinz von Homburg. Wenn Kleist recht hat, dann könnte uns ein ein gerade durch dieses Wissen entstandenes neues Bewußtsein wieder in die Unbefangenheit des Umgangs miteinander zurückführen.

In vier Semestern als Gastprofessor an den deutschen Universitäten Freiburg, Frankfurt, Leipzig und Potsdam habe ich erfahren, daß mein Traum kein leerer Traum ist. Meine jungen deutschen Studenten in Ost und West haben den amerikanischen Germanisten, der aus Deutschland hatte fliehen müssen, weil er ein Jude war, der in lebenslanger Forschungsarbeit die Verfolgung der Juden in Deutschland, die Vertreibung aus der Heimat und deren Folgen thematisiert hat, mit größter Selbstverständlichkeit als ihren Professor akzeptiert, dem sie mit Interesse zuhörten, für den sie mit Fleiß und Eifer Seminararbeiten schrieben. Ich sehe also an diesem heutigen Gedenktag nicht nur „einen Funken Hoffnung", wie Ernst Bloch meint. Sondern meinen Traum, der bereits anfängt Wirklichkeit zu werden.
Ich schließe mich dem Gedankengang der aus dem Exil zurückgekehrten Dichterin Hilde Domin an, die uns anrät, dem Wunder Hoffnung „Wie einem Vogel die Hand hin[zu]halten". Damit meinen weder Ernst Bloch noch Hilde Domin und ich ein passives Warten. Es ist die gemeinsame Aufgabe aller Betroffenen - und das sind wir - das Wissen zu bewahren und als Wissende sich aufzulehnen gegen Ungeheuerlichkeiten jeder Provenienz. Nur so finden wir den Weg zurück und den Weg vorwärts in die Unbefangenheit.

Prof. Dr. Guy Stern
Wayne State University, Detroit, USA

AsKI KULTURBERICHTE 1/1999

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