Neues Mitgliedsinstitut im AsKI: „Ein Haus für Gedichte" - Stiftung Lyrik Kabinett, München

Das Lyrik-Kabinett in München, Foto: © panobilder.de, Dieter Lukas

„Ein Haus für Gedichte, das scheint eine ebenso schöne wie bei näherer Überlegung schwer zu verwirklichende Idee zu sein." Als Martin Mosebach diese Worte sprach, hatte die Idee bereits Gestalt angenommen.

Er sagte sie 2005 zur Eröffnung des neu errichteten Hauses in der Münchner Amalienstraße 83, seither die Adresse des Lyrik Kabinetts. Mosebachs Einschätzung zeigt aber, dass das Lyrik Kabinett ein sehr ungewöhnlicher Ort ist, für manche weiterhin: ein utopischer Ort. Als Institution ist es ein Solitär – aber gut vernetzt. Seit bald 30 Jahren hat die Poesie mit ihm ein Forum: Das Haus beherbergt mit aktuell fast 60.000 Bänden die zweitgrößte auf Lyrik spezialisierte Bibliothek in Europa, hier kommen in rund 50 Veranstaltungen pro Jahr deutsch- und fremdsprachige Dichterinnen und Dichter gleichermaßen zu Wort, hier entstehen Lyrik-Editionen, die internationale Neu- und Wiederentdeckungen in schönen Ausgaben präsentieren. Zu verdanken ist all dies der Mäzenin Ursula Haeusgen, auf deren Initiative die Stiftung gegründet wurde, die heute das Lyrik Kabinett trägt und seine Aktivitäten ermöglicht. Diese dienen alle dem einen Ziel: Für die Poesie zu werben.

Die Lyrik-Bibliothek, Foto: © panobilder.de, Dieter Lukas

Die Geschichte hinter dem Lyrik Kabinett ist ungewöhnlich. Sie begann 1989 mit der Gründung einer Buchhandlung, die ganz auf Lyrik spezialisiert war. Die Buchhandlung war in bevorzugter Münchner Einkaufsgegend zu finden und sandte das Signal aus: Poesie ist – einerseits – ein wertvolles, wunderbares, vielleicht luxuriöses Gut, aber – andererseits – eines, das erschwinglich für jedermann, für den täglichen Gebrauch verfügbar ist und das einen Platz mitten in unserem Leben haben sollte. Wirtschaftlich war die Buchhandlung kein Erfolg. Das aber mindert die Stärke des Signals nicht – im Gegenteil. Lyrik hat es schwer auf dem Buchmarkt. Man kann sie nicht allein dem Markt überlassen, man muss ihrer markttypischen Randständigkeit etwas entgegen setzen. Und so sagte sich Ursula Haeusgen: Jetzt erst recht.

Die Anschaffungen, die sie für die Buchhandlung getätigt hatte, bildeten nun den Grundstock für eine Bibliothek. Es blieb neben tausenden Gedichtbänden die in der Buchhandlung begonnene Tradition der Dichterlesung. Und es blieb mit dieser ein Kreis von Zuhörern, der zunehmend Freude gefunden hatte an dieser originären, mündlichen Form der Lyrikpräsentation, an den stets kundigen Einführungen, am Austausch über das Gehörte. 1994 gründete Ursula Haeusgen mit diesem Kreis von Verbündeten im Einsatz für die Dichtung einen gemeinnützigen Verein, der heute mehr als 300 Mitglieder zählt und das Lyrik Kabinett unterstützt. 2003 erfolgte die Gründung der Stiftung Lyrik Kabinett, die nun endgültig der poetischen Idee die institutionelle Festigkeit – und damit Dauer und Zukunftssicherheit verleiht. Das 2005 neu erbaute Haus ist dafür das sichtbare Zeichen.

Das Gebäude im Hinterhof lädt zu Entdeckungen ein, und nicht nur zu literarischen. Ins Auge fallen zunächst die vielen Kunstwerke verschiedenster Stilrichtungen, ob von Horst Antes, Lothar Fischer, Georg Baselitz, Fritz Wotruba oder H.C. Artmann. Isolde Ohlbaums Autorenporträts schlagen die Brücke zur Literatur, denn die 30 Fotografierten sind nicht nur mit Werken in der Bibliothek vertreten, sie haben auch alle im Lyrik Kabinett gelesen. Die wissenschaftlich betreute Bibliothek umfasst Lyrik aus der gesamten Weltliteratur sowie deren Übersetzungen, sodass epochen- und sprachenübergreifende Zusammenhänge abgebildet werden können. Jedes Jahr kommen etwa 2.000 Titel dazu. Es finden sich auch viele bibliophile Ausgaben, Erstausgaben und vor allem eine Sammlung hunderter Künstlerbücher. Gehalten werden alle wichtigen deutschen und viele internationale Literaturzeitschriften. Diese etwa 50 Titel werden für den eigenen elektronischen Katalog tiefenerschlossen, das heißt: Die darin vertretenen Dichter werden bibliografiert – eine Fundgrube für alle, die ganz spezielle Informationen suchen. Recherchierbar ist der Bestand außerdem über den OPAC der Universitätsbibliothek der LMU. Als zwar privat finanzierte, aber öffentlich zugängliche Präsenzbibliothek steht die Bibliothek allen Interessierten an fünf Tagen in der Woche zur Nutzung zur Verfügung. Studenten, Lehrende, Übersetzer, Journalisten, Herausgeber – und natürlich Liebhaber zählen zu den Besuchern.

Inmitten der Bücher und Kunstwerke finden auch die Lesungen statt. Die Liste derjenigen, die auf Einladung des Lyrik Kabinetts vorgetragen haben, ist lang. Wolfdietrich Schnurre war der erste, es folgten seitdem gut 1.400 Lesungen. Durs Grünbein las hier, bevor er Büchner-Preisträger wurde, und Seamus Heaney, bevor er den Nobelpreis erhielt. Des Weiteren: Robert Gernhardt, Reiner Kunze, John Ashbery, Oskar Pastior, Philippe Jaccottet, Raoul Schrott, Sarah Kirsch, Hilde Domin, Ilse Aichinger, Eduardo Sanguineti, Andrea Zanzotto, Thomas Kling, Friederike Mayröcker und sehr viele andere. Monatlich treten in der Reihe „Poetry in Motion" junge Künstler der internationalen Spoken-Word-Szene im Lyrik Kabinett auf. Aber genauso wie die Gegenwartsliteratur wird auch die Lyrik vergangener Epochen in Rezitationen berücksichtigt, vom Gilgamesch-Epos über Sappho, Pindar und Hafis oder die mittelalterliche Minnelyrik in Übersetzungen zeitgenössischer Dichter bis zu den markanten Stimmen der Moderne: Stefan George, Ossip Mandelstam, William Carlos Williams, Giuseppe Ungaretti, Rose Ausländer – solche Autorenaufzählungen ließen sich jeweils über Seiten fortsetzen. Mit seinen vielen zweisprachigen Lesungen ermöglicht das Lyrik Kabinett auch die Begegnung mit anderen Kulturkreisen und ihrer Literatur. Diese interkulturelle Arbeit, die auch die Leistungen der Übersetzer würdigt und andere Kulturen im Medium des Gedichts kennenlernen lässt, ist der Stiftung ein besonderes Anliegen.

Publikum im Lyrik Kabinett, Foto: © panobilder.de, Dieter Lukas / Lyrik Kabinett

Dreimal im Jahr diskutieren Kritiker im „Lyrischen Quartett" über neue und neu herausgegebene Poesie, eine Veranstaltungsreihe in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ebenso wie die jährlichen Lyrik-Empfehlungen, die seit 2014 auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt werden. Darüber hinaus unterstützt das Lyrik Kabinett die Begegnungen von Dichtern und Initiativen der freien Szene und engagiert sich in Kooperationen zur Literaturförderung.

Zu den Vermittlungsbemühungen gehört seit mehreren Jahren auch das Modellprojekt „Lust auf Lyrik", das in Zusammenarbeit mit mehreren Münchener Schulen – und unterstützt durch die Landeshauptstadt und den Freistaat – durchgeführt wurde. Neben die anspruchsvollen Dichterlesungen ist damit eine eigentlich notwendige Ergänzung getreten: „Lust auf Lyrik" weckt in mehrwöchigen Workshops Lust und Freude an poetischen Texten und baut Hemmschwellen frühzeitig ab. Das Projekt soll Selbstvertrauen im Umgang mit Sprache schaffen, damit sich die Schülerinnen und Schüler souverän in unserer Sprachwelt bewegen können. Es soll Experimentierfreude und Kreativität, einen schöpferischen Umgang mit der Sprache befördern. In dem Modul „Wort vor Ort" des Modellprojekts können Schulklassen einen Ausflug in die Lyrik-Bibliothek machen – und erkunden dort in einer poetischen Schatzsuche und Schnitzeljagd ihre eigene Sprachphantasie, mit staunenswerten Ergebnissen: „Die herumirrenden Haare / Beruhigten sich in den Schal hinein" dichtete jüngst ein Sechstklässler.

Bei der Spoken-Word-Reihe Poetry in Motion III,  Foto: © panobilder.de, Dieter Lukas / Lyrik Kabinett

Schließlich ist das Lyrik Kabinett auch selbst verlegerisch tätig und legt ausgewählte und bibliophil gestaltete Publikationen vor. Beginnend mit „Celan wiederlesen" (1999) öffnet diese Reihe der ‚Blauen Bücher' den Blick deutscher Leserinnen und Leser für spanische homoerotische Lyrik (unter dem Titel „Namenlose Liebe"), für die faszinierend-eigensinnige lyrische Weltsicht von dreißig amerikanischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts oder die phantasievoll-farbige und handlungsdrastische Ritterepik des Renaissanceautors Matteo Maria Boiardo. Achtzehn Bände sind bisher erschienen – zuletzt ein Band der dänischen Dichterin Pia Tafdrup und eine zweisprachige ungarisch-deutsche Anthologie. Bände zu englischer und katalanischer Lyrik sind in Vorbereitung. Zudem existiert seit 2006 im Carl Hanser Verlag die Reihe ‚Edition Lyrik Kabinett', in der bisher 52 Bände internationaler Poesie veröffentlicht wurden. In einer eigenen Publikationsreihe erscheinen auch die „Münchner Reden zur Poesie", die zweimal im Jahr das Verständnis für Geschichte und Eigenart der Gattung fördern sollen. Sämtliche Vortragsabende der Reihe – in der unter anderen Heinrich Detering, Kurt Flasch, Jan Wagner oder Péter Esterházy sprachen – sind als Audiodateien nachzuhören auf der Internetseite www.poetenladen.de. Am 9. Mai 2018 hält der israelische Autor und Germanist Jakob Hessing seine Rede „Auf der Grenze. Eine autobiographische Wanderung". In einer weiteren Publikationsreihe mit dem Titel „Zwiesprachen", die beim Verlag Das Wunderhorn in Heidelberg erscheint, präsentieren jüngere Dichterinnen und Dichter der Gegenwart große lyrische Stimmen der Vergangenheit, die ihnen wichtig sind: Etwa beschäftigte sich Marica Bodrožic mit Mechthild von Magdeburg, Clemens Setz widmet sich dem Esperanto-Dichter William Auld (12. Juni 2018), Arne Rautenberg ehrt Richard Brautigan (4. Dezember 2018); frühere „Zwiesprachen" galten César Vallejo, Marina Zwetajewa, John Keats, Friedrich Hölderlin und anderen.

„Gibt es", so fragte Martin Mosebach 2005 weiter in seiner Rede, „genügend gute Gedichte, um ein Haus oder auch nur eine Wohnung damit zu füllen?" Das Haus, in dem es eng wird, hat die Antwort mittlerweile selbst gegeben. Ja, es gibt sie. Es werden immer mehr und sie erfreuen sich einer wachsenden Zahl von Bibliotheksnutzern und Zuhörern. Und wenn die Stiftung Lyrik Kabinett so dazu beitragen kann, dass die Aufmerksamkeit für die Poesie wächst, dann erfüllt sie ihren Stiftungszweck – und vermag weit mehr zu leisten, als eine einzelne Buchhandlung es gekonnt hätte.

Dr. Holger Pils
Geschäftsführer Stiftung Lyrik Kabinett

Besondere Buchobjekte in der Lyrik Bibliothek, Foto: © panobilder.de, Dieter Lukas / Lyrik Kabinett

Stiftung Lyrik Kabinett

Amalienstraße 83a
80799 München

Tel.: 089-34 62 99
Fax: 089-34 53 95

www.lyrik-kabinett.de
E-Mail: info@lyrik-kabinett.de

AsKI KULTUR lebendig 1/2018

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