Neues Mitglied im AsKI: Das documenta archiv stellt sich vor

Ausstellungsansicht mit Werken von Hans Haacke und Marta Minujín, documenta 14, 2017, © documenta archiv / Foto: Monika Nikolic

Die Idee zur Archivgründung hatte der Designer, Professor für Malerei, Initiator und langjährige Chef der Kasseler Weltkunstschau Arnold Bode (1900–1977) selbst. Hartnäckig verfolgte er sein Projekt, das Jahrhundertunternehmen documenta nicht bloß zu „dokumentieren", sondern den Kuratorenteams eine wissenschaftliche und archivarische Institution an die Seite zu stellen.

Im Januar 1961 hatte er die „Fortsetzung der documenta" an die Gründung einer solchen Einrichtung geknüpft, im Juni schließlich, zwei Jahre nach dem Erfolg der zweiten Ausstellung, war er am Ziel: das unter städtischer Obhut ins Leben gerufene documenta archiv nahm seine Arbeit zunächst in der Murhardschen Bi­bliothek auf. Bode selbst verlor schnell das Interesse an dem Unternehmen. Die Stadt Kassel ignorierte seinen Vorschlag, Werner Haftmann (1912–1999), den kunsttheoretischen Spiritus rector der ersten drei Ausstellungen, mit der Leitung zu betrauen; stattdessen berief der Kasseler Oberbürgermeister Lauritz Lauritzen die Göttinger Kunsthistorikerin Lucy von Weiher (1911–1969) – ein Novum in der traditionell männlich dominierten deutschsprachigen Archivlandschaft. Die Akten der 60er-Jahre zeugen von den Widerständen, denen sich die neue Leiterin innerhalb der machtvollen kunstinstitutionellen Strukturen gegenübersah.

Inhaltliche Nähe zur Weltkunstschau bestimmte seit jeher das entlang der documenta, der Gegenwartskünste und ihrer Akteure entwickelte Sammlungsprofil. Die damit einhergehende und von allen Archivleitungen stets aufs Neue geforderte organisatorische Vereinigung mit der gemeinnützigen documenta Gesellschaft konnte 2016 realisiert werden. Seitdem firmiert das documenta archiv mit einer breiten Forschungs-, Vermittlungs- und Ausstellungsagenda als aktive und lebendige Wissenschaftseinrichtung unter der Trägerschaft der documenta und Museum Fridericianum gGmbH – eine Verbindung, die aus archivarischer Sicht und mit Blick auf das künftige Programm neue Potentiale freisetzt.

Obgleich der Unterbringung im Kulturhaus Dock 4, einem ehemaligen Schulgebäude hinter dem Fridericianum, noch immer der Charme eines produktiven Provisoriums anhaftet – längst mussten mehrere Außendepotflächen hinzugewonnen werden –, ist die Präsenz in der Kasseler Innenstadt als Chance zu begreifen, das Haus für ein breiteres Publikum zu öffnen.

Dem ehrgeizigen Plan, in Kassel das europaweit erste Archiv für die Kunst des 20. Jahrhunderts zu etablieren, verdankt das Haus heute seine historisch einmaligen Material­sammlungen zur Kunst, Kunstkritik und kuratorischen Praxis der letzten acht Jahrzehnte. Mittlerweile sind die Schriftgutbestände auf 600 laufende Meter angewachsen. Korrespondenzen, Berichte, Planungsunterlagen, Skizzen und Drucksachen erlauben den objektbasierten Zugriff auf kuratorische Konzepte, deren Genese, auf personelle Verflechtungen oder wechselnde kunstwissenschaftliche und soziohistorische Theoreme, die Kassel seit 1955 zum international wahrgenommenen, immer kontrovers kommentierten Schauplatz von Gegenwartskunst gemacht haben.

Ausstellungsansicht mit „Les baigneurs“ von Pablo Picasso, documenta 2, 1959

Hinzu kommen – neben Kuratoren- und Künstler-Nachlässen – dreidimensionale Objekte, Multiples und Kunstwerke, außerdem eine in seiner Breite singuläre Pressesammlung. Im Medienarchiv bewahrt das Haus einen der bislang nur punktuell gehobenen Schätze visueller Dokumentation von zeitgenössischen Ausstellungsszenografien und performativen Kunstformen. Das Spektrum reicht von Porträtaufnahmen, dokumentarischer Fotografie und Film über Videokunst und Tondokumente bis zu digital born materials und dynamischen Netzressourcen. Auch dank seiner inhaltlichen Geschlossenheit bei gleichzeitiger Heterogenität der Medientypen sucht der Bestand seinesgleichen.

Die archiveigene Forschungsbibliothek mit ihrem traditionell an der documenta ausgerichteten Erwerbungsprofil (ca. 120 000 Medieneinheiten auf 3 200 lfd. Metern) und einer exorbitanten Sammlung von Ephemera und Künstler­büchern versteht sich als Wissensspeicher für die Kunst seit 1900, ihrer Theoriebildung und den ökonomisch-politischen wie transkulturellen Bedingungen ihrer Produktion.

Ähnlich wie andere archivarische Einrichtungen steht das documenta archiv gegenwärtig vor der Herausforderung, technische Infrastrukturen zu erneuern und Fragen einer zeitgemäßen Erschließung, Dokumentation und Präsentation mit Konzepten digitaler Langzeitsicherung zu verbinden. In diesem Zusammenhang sind erste Schritte hin zur Etablierung einer breit aufgestellten Medienrestaurierung angelaufen, die sukzessive zu einem Kompetenzzentrum für die Bestandserhaltung und Rekonstruktion physischer und digitaler AV-Materialien ausgebaut werden soll.

Aufgrund seiner Genese sind die Bestände des Archivs bislang nur fragmentarisch verzeichnet, ein Mangel, der mit der im letzten Herbst angelaufenen, vom Land Hessen und der Stadt Kassel finanzierten, mehrjährigen Erschließungs- und Digitalisierungsoffensive angegangen wurde. Neue Arbeitsfelder haben sich unter pandemischen Bedingungen aufgetan, etwa die Erarbeitung von Standards, um die bevorstehende überwiegend im virtuellen Raum entworfene documenta fifteen zu sichern.

Als Forschungseinrichtung sieht sich das documenta archiv in der Pflicht, mit der Sichtbarmachung der Sammlungen auch die eige-ne wissenschaftliche Agenda voranzutreiben. Dazu zählt aus archivarischer Sicht beispielsweise die Erarbeitung eines verbindlichen begrifflichen Instrumentariums, das den heterogenen visuellen Phänomenen und partizipatorischen Formaten innerhalb der Gegenwartskunst gerecht wird. Schwerpunkte liegen darüber hinaus auf der dokumentarischen Foto-, Medien- und Filmgeschichte, sowie auf den kunstwissenschaftlichen Kernfächern, etwa einem längerfristigen Forschungsprogramm zu Selektions- und Kanonierungsprozessen in den Künsten des 20. Jahrhunderts.

Joseph Beuys, Aktion 7000 Eichen, documenta 7, 1982 © documenta archiv / Foto: Dieter Schwerdtle

Die kommenden Monate stehen bundesweit – so auch in Kassel und im documenta archiv – im Zeichen des 100jährigen Geburtstags von Joseph Beuys. Eine für den Herbst geplante Aus­stellung aus dem Nachlass des Fotografen Dieter Schwerdtle, der die Ikonisierung der Künstlerfigur maßgeblich prägte, geht dessen spezi­fischem Kamerablick nach. Im Gegenzug nimmt eine gemeinsam mit dem Schauspiel­ensemble des Staatstheaters konzipierte Reihe von „Lecture Performances" unter dem Titel „Lieber girls als Beuys" die weibliche Avantgarde anhand von Archivdokumenten in den Blick. Eine noch im Frühjahr letzten Jahres als Tagung konzipierte Hommage an den künstlerischen Leiter der documenta 11, Okwui Enwezor, wird nun als dynamisches Website-Projekt unter Beteiligung damaliger Kuratoren und Kuratorinnen realisiert. Dabei versteht sich das documenta archiv stets auch als Ort, an dem der Archivgedanke selbst künstlerische Prozesse initiiert; die Mechanismen von Erkenntnis und Wissensproduktion, Systematisierung und Ordnung kuratorische Fragestellungen generieren. Die Zusammenarbeit in Verbünden und Netzwerken wie dem AsKI e. V. ist für das documenta archiv ein zentraler Weg, um durch Erfahrungsaustausch mit der Fachgemeinschaft stets über aktuelle Trends, Initiativen und Entwicklungen informiert zu sein und an ihnen mitzuwirken.

Dr. Birgitta Coers |
Direktorin documenta archiv


documenta archiv

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AsKI kultur leben 1/2021

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