Museum Casa di Goethe: Italien – Deutschland hin und zurück. Der lange Weg eines Bildes

Jakob Philipp Hackert, Die Cascata del Valcatoio in Isola di Sora, Öl auf Leinwand, 1794, Museum Casa di Goethe, Rom

Jakob Philipp Hackerts Gemälde zeigt die „Cascata del Valcatoio" und, oben rechts, das Castello Boncompagni. Dahinter ist der zweite Wasserfall vorzustellen. An das Kastell schließt rechts die Kapelle S. Maria delle Grazie an, wiederum rechts davon ragen aus den Dächern des Städtchens die beiden Kirchtürme von S. Lorenzo Martire empor. Im Vordergrund sind zwei Fischer mit ihrer Arbeit beschäftigt, ohne sich weiter um das Naturspektakel des Wasserfalls in ihrem Rücken zu kümmern; am linken Bildrand zieht ein Wanderer mit Esel seines Wegs. Sämtliche Details sind realistisch wiedergegeben – ein „Landschafts-Porträt", das dem Betrachter eine Fülle von Informationen vermittelt.

Jakob Philipp Hackert war ein Entdecker. Im Winter 1768 in Rom angelangt, machte er sich sogleich an die Erkundung der Umgebung der Ewigen Stadt. Während seiner Exkursionen entstanden unzählige Zeichnungen, die später im römischen Atelier als Vorlagen für Gemälde dienten, und so konnte Hackert im Alter zufrieden an Johann Wolfgang Goethe schreiben: „An Stof fehlet es mir nicht ich habe Tausende Zeichnungen nach die Natur mir richtigkeit gezeichnet, so das ich sagen kann, das ich beinahe den KirchenStat und daß Königreich Napel u Sicilien in meine Portefeuls habe".

1773 brach Hackert wieder einmal zu einer „malerischen Wanderung" auf, in das südöstlich von Rom gelegene Städtchen Isola di Sora (heute Isola del Liri). Durch den kleinen Ort fließt der Fluss Liri, der sich im Ortszentrum teilt und zwei Wasserfälle bildet: Der linke fällt als „Cascata Grande" senkrecht in die Tiefe, der rechte bildet über ein Gefälle von 160 m die „Cascata del Valcatoio", die heute für ein Kraftwerk genutzt wird. Zwischen beiden liegt auf einer Anhöhe das mittelalterliche Castello Boncompagni.

Pierre-Adrien Pâris, Die Wasserfälle in Isola di Sora, aus: Voyage pittoresque ou Description des Royaumes de Naples et de Sicile, Band 2, Paris 1782, Tafel 120, Museum Casa di Goethe

Von Hackerts erster Wanderung nach Isola di Sora ist nur eine Zeichnung mit der „Cascata Grande" überliefert, mit der er sich jedoch den Platz als Entdecker des Orts sicherte. 1778 und 1779 wurde das Städtchen auch von französischen Künstlern besucht, die im Auftrag des Abts Jean-Claude Richard de Saint-Non Süditalien bereisten. Ihre Ansichten wurden in der „Voyage pittoresque ou Description des Royaumes de Naples et de Sicile" publiziert, die sich großer Popularität erfreute und die Wasserfälle einer größeren Gruppe von Reisenden bekannt machte. Es wundert also nicht, dass der geschäftstüchtige Hackert 1793 beschloss, eine weitere Reise nach Isola di Sora zu unternehmen. Er kehrte mit einer reichen Ausbeute an Zeichnungen zurück und führte schließlich 1794 unser Ölgemälde aus.

Zum Verkauf des Bildes ist es aber, wohl auf Grund der politischen Entwicklung, nicht mehr gekommen. 1793 war das Königreich Neapel in den Krieg gegen Frankreich eingetreten, die Lage in Europa wurde angespannter und die Reisenden auf „Grand Tour" immer weniger. 1799 eroberten die Franzosen Neapel. Hackert gelang die Flucht, seine Zeichnungen konnte er retten, und auch unser Gemälde, wohl zusammengerollt und sicher verwahrt. Aus seinem Nachlass gelangte es 1807 nach Berlin, wo es verkauft wurde. Wer es zuerst erwarb, ist nicht bekannt.

Franz Rappolt, Foto: Erbengemeinschaft Rappolt

1891/92 befand sich ein weiterer deutscher Bildungsreisender in Italien: Franz Rappolt, 1870 in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Vielleicht hat er damals schon Werke Hackerts gesehen, sicherlich hat er die südliche Landschaft schätzen gelernt. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland übernahm Franz die Leitung der Berliner Filiale der Firma Rappolt und Söhne, ein gut gehendes Textilunternehmen, in dem Herrenbekleidung produziert wurde. 1903 wechselte er an den Hauptsitz der Firma in der Hamburger Mönckebergstraße.

Unter Franz Rappolts Leitung wuchs das Unternehmen zu einem der größten in Deutschland, er selbst war ein hoch angesehener Bürger der Hansestadt: Seit 1926 gehörte er dem Plenum der Handelskammer Hamburg an, 1929 war er Teil des Ehrengerichts der Hamburger Börse und versah 1921 und 1922 das Ehrenamt eines Handelsrichters. 1915 zogen die Rappolts in eine neu erbaute Stadtvilla am Leinpfad 58 im vornehmen Stadtteil Winterhude. Das Haus wurde künstlerisch geschmackvoll eingerichtet, man veranstaltete Kammermusikabende und im Arbeitszimmer des Hausherrn hing ein Porträt Goethes. In Rappolts Sammlung befanden sich zwei Bilder des Hamburger Impressionisten Thomas Herbst (1848–1915), ein Ölgemälde eines französischen Impressionisten (vielleicht Maurice Utrillo), und schließlich auch Hackerts Ansicht des Wasserfalls von Isola di Sora. Ob das Bild von Rappolt oder seiner Frau erworben oder vielleicht geerbt worden ist, lässt sich nicht mehr feststellen.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 zerbrach Franz Rappolts Lebenswerk Stück für Stück. 1938 wurde seine Firma „arisiert" und er selbst zum Verkauf gezwungen, seine Immobilien und Konten wurden gesperrt und ihm wurde eine enorme „Judenvermögensabgabe" auferlegt. Im Februar 1939 musste er die Villa in Winterhude verlassen. Im Mai des Jahres verkaufte er für 700 Reichsmark das Gemälde Hackerts an den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, der es im Januar 1940 – nun für 2850 Reichsmark – an den Münchner Galeristen Karl Haberstock veräußerte. Haberstock war Mitglied der Verwertungskommission für „Entartete Kunst" und Lieferant für das geplante „Führermuseum" in Linz. An diesen „Sonderauftrag Linz" leitete er den Hackert mit sattem Gewinn für 11500 Reichsmark weiter. 1945 wurde das Gemälde von den Amerikanern sichergestellt und nach der Auflösung der „Central Collecting Points" 1952 an die Treuhandverwaltung von Kulturgut beim Auswärtigen Amt übergeben.

Franz Rappolt versuchte noch 1941, zu seinem schon 1938 nach Amerika emigrierten Sohn Ernst auszureisen, auch zog er eine Auswanderung nach Kuba und schließlich Uruguay in Betracht, doch alle Versuche scheiterten. Am 6. März 1941 nahm sich Franz Rappolts Ehefrau Charlotte das Leben. Am 15. Juli 1942 wurde er selbst in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Hier wurde Franz Rappolt am 25. November 1943 ermordet.

Das Gemälde Hackerts schmückte nach dem Krieg eine „Amtsstube des Auswärtigen Amts" – tatsächlich befindet sich auf seiner Rückseite ein Aufkleber mit dem Hinweis „Eigentum des Auswärtigen Amts". Erst 2015 wurden die rechtmäßigen Besitzer, die Erben von Franz Rappolt, ermittelt und 2017 das Bild an sie restituiert.

Ihrem Wunsch nach einer öffentlichen Ausstellung kam die Casa di Goethe mit der sofortigen Zusage Maria Gazzettis, Leiterin des Museums, entgegen: Wo, wenn nicht hier, könnte das Gemälde einen würdigen Platz finden? Hackert, der bis zum Juli 1786 an der Spanischen Treppe in Rom residierte, kannte zweifellos auch die Wohnung J. H. W. Tischbeins in der Via del Corso 18, wo Goethe am 1. November des Jahres Quartier bezog. Franz Rappolt wiederum hat schon als Jüngling Italien bereist, hat sowohl Goethe als auch Hackert geschätzt und das Porträt des einen sowie ein Werk des anderen in seiner Stadtvilla aufbewahrt. Und so hat Hackerts „Ansicht des Wasserfalls in Isola di Sora" hier, in Goethes römischer Wohnung, ein neues Zuhause gefunden: Dafür danken wir den Erben von Franz Rappolt, an den fortan auch in der Casa di Goethe erinnert werden soll.

Dr. Claudia Nordhoff |
Museum Casa di Goethe

AsKI kultur leben 2/2021

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