Stiftung Lyrik Kabinett, München : Ein Readymade für das Lyrik Kabinett

‘Die Außenseite des Elements‘: Übergabe an das Lyrik Kabinett, Foto © Volker DerlathThomas Girsts und Jan Wagners Loseblattsammlung „Die Außenseite des Elementes" (1992–2001)

 1078 Seiten Literatur und Kunst in knapp zehn Jahren: Thomas Girst und Jan Wagner gaben zwischen 1992 und 2001 die Loseblattsammlung „Die Außenseite des Elementes" heraus. Girst ist heute Leiter des weltweiten BMW Group Kulturengagements, Wagner wurde als Lyriker 2017 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Oft findet man Verweise auf ihre frühe, so mutige wie bewusst marginale Unternehmung, aber erst jetzt steht erstmalig ein komplettes Set mit insgesamt elf Ausgaben der Öffentlichkeit zur Verfügung: Im November 2021 überreichten Wagner und Girst dieses als Schenkung der Lyrik-Bibliothek der Stiftung Lyrik Kabinett in München. Ein besonderes Geschenk für alle Lyrik- und Kunstinteressierten, für die Forschung zu Duchamp bis Wagner, sowie für Fans von Künstlerbuch, Objekt und Gimmick.

Bei einem ersten Blick in die mit Stempeln und Aufklebern versehenen Pappschachteln wird schnell klar: Bei „Die Außenseite des Elementes" handelt es sich um eine erste Plattform für viele damals noch unerfahrene, heute aber bekannte Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Die Schachteln enthalten frühe bis sehr frühe Texte etwa von Jan Brandt, Ursula Krechel und Björn Kuhligk, Thomas Pletzinger, Daniela Seel und Uljana Wolf. Adelina Anthony, Leanne Shapton, Nicholas Kulish und Jacqueline Johnson publizierten hier ebenfalls, genauso wie Monika Aichele, Einad Pelat, Christoph Niemann und Charles Henri Ford. Tatsächlich ist die durchgehende Internationalität der Beitragenden auffällig, die von zwei Schwerpunktausgaben zu niederländischer und zu persischer Dichtung unterstrichen wird. Neben Texten aus ganz Europa, Kanada und den USA wurden stets in Original und Übersetzung Beiträge meist junger Autoren und Autorinnen und Künstler und Künstlerinnen unter anderem aus oder mit Hintergrund in Südafrika, Nigeria, Jamaika, Iran, Israel, Mexiko, Haiti, Chile oder China publiziert – viele von ihnen wohnhaft in New York.

Ästhetisch wird mit den A4-Schachteln unter anderem auf Marcel Duchamp und dessen Notizschachteln sowie die Idee des Objets trouvé angespielt; Girsts Leidenschaft für Duchamp blieb ihm erhalten, später sollte er „The Indefinite Duchamp" (Berlin, 2013) und „The Duchamp Dictionary" (London/New York, 2014) veröffentlichen. Die Idee der industriellen Vorfertigung spielt für „Die Außenseite des Elementes" nicht nur durch die Kartonschachteln eine Rolle, sondern auch, da der Titel des Projekts aus der Glasfertigung stammt – mit ihm wird die Ausrichtung von einzusetzenden Glasscheiben angezeigt. Etwas zugleich Fragiles und gezielt Unfertiges ist auch den Schachteln selbst zu eigen. Die Loseblattsammlung kommt ohne übergeordnete Seitenzählung aus, so dass der Leseprozess in den Vordergrund rückt, sich die Lesenden stets eine neue Reihenfolge schaffen, einzelne Blätter herausnehmen können.

Von Sanford Biggers gestalteter Gimmick in Ausgabe 11, 2001, Foto: © Volker Derlath

Es handelt sich um ein fertig-unfertiges Objekt. Und es gibt ein Objekt im Objekt: Den Schachteln liegt stets ein Gimmick bei, eine limitierte Edition eines künstlerischen Objekts. Wie Jan Wagner bei der Übergabe feststellte, wurden die Gimmicks zunehmend „anspruchsvoller". Begann man in der ersten Ausgabe noch mit destruktiver Ironie mit einer Streichholzschachtel, liegt Nr. 8 ein zweisprachiges Interviewbooklet mit dem postmodernen amerikanischen Schriftsteller William Gaddis bei, Nr. 11 ein in drei Abteile abgetrenntes Beutelchen mit rotem, weißem und blauem Sand des afroamerikanischen Künstlers Sanford Biggers. So entstanden kleine, sich in die Welt verteilende Sandskulpturen, die eigentlich die Überreste von umfassenderen Museumsskulpturen von Biggers waren. Wieder wird das Vorgefertigte weiterverarbeitet, umgewidmet. Aufwand und Anspruch der „Außenseite", derartige Arbeiten zu präsentieren, sind umso bemerkenswerter, als dass die Herausgeber die Ausgaben gänzlich am etablierten Verlagswesen vorbei vertrieben. Der kollektive Name, unter dem sie fungierten – „Non Profit Art Movement"
bzw. „N.P.A.M." – war Programm: Die Schachteln wurden werbefrei und zum Selbstkostenpreis in einer Auflage von zuletzt 500 Exemplaren über Abonnements und ausgewählte Buch­läden verkauft.

Nicht-kommerzielle Unternehmungen dieser Art verlaufen oft im – man möchte fast sagen: bunten – Sande. Auch deswegen stellt die vollständige Reihe der „Außenseite" für die Bestände des Lyrik Kabinetts eine großartige Ergänzung dar. Das Lyrik Kabinett unterhält die zweitgrößte auf Lyrik spezialisierte Bibliothek Europas mit aktuell ca. 68.000 Medien: deutschsprachige und internationale Lyrikbände, Audio- und Videomedien, Zeitschriften und Künstlerbücher. Girsts und Wagners Schachteln knüpfen hier gleich an mehrere Sammlungen an.

Als Objekte an die Künst­lerbuchsammlung mit seltenen Drucken, Buchkunstobjekten, Unikaten, Malerbüchern, Leporellos, Mappenwerken und aufwendig illustrierten Büchern: Humorvolles wie ein Gedichtefußball findet sich neben handwerklich sehr Aufwendigem, zum Beispiel dem kleinsten Buch der Welt (2,4 x 2,9 mm, 32 S., Ledereinband). Als Zeitschriftenreihe an andere teils einfach, teils hoch künstlerisch gestaltete nicht-kommerzielle Zeitschriften wie „Lose Blätter" (Berlin, 1997–2007) oder „miniature obscure" (Halle/Chemnitz, 1991–2001). Und als selbstgemachte Editionen mit rougher Machart und internationaler Ausrichtung an die in den letzten Jahren verstärkte Sammlungsaktivität der Lyrik-Bibliothek im Bereich aktueller Chapbook-Verlage aus dem angloamerikanischen Bereich (z. B. Barque Press, Critical Documents). Es gibt viel zu entdecken in den elf Ausgaben von „Die Außenseite des Elementes" und um sie herum: Literatur und Kunst, Wort und Objekt, Zentrales und Marginales, frühe Werke und späte Avantgarden, Witziges und Wichtiges – die Innenseite der Literaturgeschichte.

Dr. Lisa Jeschke | Wissenschaftliche Assistenz,
Stiftung Lyrik Kabinett

 

AsKI kultur leben 1/2022

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