Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora: Gedenken ohne Wissen?

1999 errichtete Gedenktafel für die überstellten Insassen des aufgelösten Speziallagers Nr. 1 Sachsenhausen vor der Justizvollzugsanstalt Untermaßfeld, Foto: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald

Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungskultur

Im Februar 1950 kamen 1.229 Häftlinge des aufgelösten sowjetischen Speziallagers Nr. 1 Sachsenhausen (1945–50) zur weiteren Strafverbüßung in die Haftanstalt Untermaßfeld in Thüringen. Aufgrund von Krankheit und schlechter medizinischer Versorgung verstarben bis 1953 74 von ihnen. Die Urnen mit der Asche von 49 Toten wurden 1967 auf dem Parkfriedhof im nahe gelegenen Meiningen anonym bestattet.

Seit den 1990er-Jahren setzten sich ehemalige Speziallager-Insassen in der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945–1950 e. V." für eine Gedenktafel ein, die an die Verstorbenen in Untermaßfeld erinnert. Im Jahr 2000 wurden schließlich zwei Steinstelen auf dem Parkfriedhof Meiningen eingeweiht. Erst später und nur zögerlich setzte sich die Arbeitsgemeinschaft mit den Biographien der 49 dort namentlich aufgeführten Verstorbenen auseinander.

Nach einer Intervention der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten – Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen wurde 2016 der Namenszug von Josef Ebenhöh (1914–1951) aus einer der beiden Stelen herausgefräst. Ebenhöh, aus dem Sudetenland stammend und bereits früh mit der nationalistischen Henlein-Partei sympathisierend, war während des Zweiten Weltkriegs Kommandoführer in den Außenlagern Langensalza und Penig des KZ Buchenwald. In Penig mussten zwischen Januar und April 1945 700 jüdische Frauen aus Ungarn bei der Produktion von Flugzeugteilen Zwangsarbeit leisten. Sie litten unter katastrophalen Lebensbedingungen, Seuchen grassierten, Medikamente gab es kaum. Mindestens zehn KZ-Häftlinge verstarben bis zur Räumung des Lagers. Ein 1966 eingeleitetes Voruntersuchungsverfahren gegen die Verantwortlichen wurde sieben Jahre später eingestellt – u. a. da die bundesdeutsche Justiz den Verbleib von Josef Ebenhöh nicht ermitteln konnte.

Gedenkstelen für die überstellten Häftlinge des Speziallagers Sachsenhausen, die in der Haftanstalt Untermaßfeld verstarben. Parkfriedhof Meiningen, August 2020. An der ausgefrästen Stelle stand bis 2016 der Name des KZ-Kommandoführers Josef Ebenhöh; Foto: Gedenkstätte Buchenwald

Die Causa Ebenhöh schien mit der Tilgung seines Namens von der Stele erledigt. Sie zeigt aber, wie wichtig eine intensive öffentliche Beschäftigung mit den Lebensläufen aller namentlich aufgeführten verstorbenen Speziallager-Insassen sowie der (über)regionalen NS- und Nachkriegsgeschichte gewesen wäre. Nicht alle überstellten Speziallager-Insassen, die in Untermaßfeld verstarben, waren an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen beteiligt. Allerdings finden sich unter den aufgeführten Namen mehr als zehn weitere Personen, die laut sowjetischen Unterlagen an Misshandlungen von ausländischen Zwangsarbeitern oder Gewaltakten gegen die Bevölkerung in den besetzten Gebieten beteiligt gewesen sein sollen.

Der oben skizzierte Fall steht symptomatisch für die Schwierigkeiten des Erinnerns an die NS-Diktatur und die sowjetische Besatzungszeit in den „neuen Bundesländern" nach 1990. Mit dem Ende der DDR konnte erstmals öffentlich über bisher ausgesparte Themen der Geschichte berichtet und verhandelt werden. Dazu ge­hörten auch die sowjetischen Verhaftungen und Speziallager. Betroffene, Angehörige und Ini­tiativgruppen traten seit 1989/90 für die Setzung von Gedenkzeichen im öffentlichen Raum ein. Nicht selten kollidierten die privaten Erzählungen und Erinnerungen an die sowjetischen Internierungen mit den neuen Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschungen. Für die erinnerungskulturellen Praktiken von Betroffenen und ihren Angehörigen spielt die differenzierte Auseinandersetzung mit den Biographien der Internierten lediglich eine untergeordnete Rolle.

Dreißig Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung setzt die Gedenkstätte Buchenwald in einem mehrjährigen Projekt genau an diesem Punkt an. Unter dem Motto „Gedenken ohne Wissen?" wird die ostdeutsche Erinnerungskultur der letzten 30 Jahre an sowjetische Verhaftungen und Speziallager einer größeren „Inventur" unterzogen. Das Projektteam dokumentiert Denkmale, die diese Erinnerung öffentlich repräsentieren. In einer Datenbank werden neben einer aktuellen Zustandsbeschreibung und der Geolokalisierung auch Informationen zur Entstehungsgeschichte und wichtigen Akteuren der Setzungen gesammelt.

Darüber hinaus sind „citizen science"-Projekte geplant. Gemeinsam mit Partnern vor Ort (Schulklassen, Volkshochschulen, Geschichtsvereinen) führt das Projektteam Recherche-Workshops durch. Im Zentrum stehen dabei Biographien mit Bezug zur Region und zu sowjetischen Verhaftungen: Dabei werden die Biographien sowohl in die lokale NS-Gesellschaftsgeschichte eingeordnet, als auch in die Zeit der sowjetischen Besatzung. Den dritten Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die Personen und das Geschehen vor bzw. nach 1945.

Das Projekt ist Teil des Verbundes „Diktaturerfahrung und Transformation. Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren". Ihm gehören neben der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Universität Erfurt und die Stiftung Ettersberg. Europäische Diktaturforschung – Aufarbeitung der SED-Diktatur – Gedenkstätte Andreasstraße an. Förderung erhält der Verbund durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

 Franz Waurig | wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Gedenkstätte
Buchenwald und Bearbeiter des Forschungsprojektes

 

AsKI kultur leben 1/2020

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