Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden: Blicke ! Körper ! Sensationen ! Ein anatomisches Wachskabinett und die Kunst

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Oberschenkel eines Soldaten, dessen Hauptpulsader durch einen Bajonettstich verletzt wurde, Werkstatt Rudolf Pohl, Dresden, Wachsmodell, 1918, © Deutsches Hygiene-Museum, Foto: David Brandt

Ausgangspunkt dieser Sonderausstellung ist ein historisches anatomisches Wachskabinett, das vom Deutschen Hygiene-Museum 2009 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder angekauft wurde und das jetzt erstmals in einem musealen Zusammenhang zu sehen sein wird.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war der kulturhistorisch wertvolle Objektbestand unter Bezeichnungen wie „Anatomisches Museum" oder „Anatomisches Wachskabinett" auf Volksfesten präsentiert worden. Bei den ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zum großen Teil in Dresden entstandenen Objekten handelt es sich um ein rares Gesamtensemble, das heute zu den letzten noch zusammenhängend erhaltenen anatomischen Panoptiken gehört.

Den Kernbestand bilden 84 Schaukästen mit insgesamt 200 Wachsmodellen. Zeittypische Themen wie etwa Anatomie, Pathologische Forschung und Sozialhygiene, Arbeitsunfälle und Berufserkrankungen, Moulagen von Hauterkrankungen, Erkrankungen bei Säugling und Kind, Operationen, Fortpflanzung, Schwangerschaft und Geburtskunde, Sexualkunde, Verhütung, Geschlechtskrankheiten oder auch Kriegsverletzungen sind in diesem Wachskabinett hervorragend dokumentiert. Die Objekte spiegeln das sich wandelnde Körper- und Menschenbild ihrer Entstehungszeit und belegen den an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert noch ungetrübten Fortschrittsglauben und die Erwartung einer Verbesserung des menschlichen Körpers.

Die „Sammlung Anatomisches Panoptikum" ist aber nicht das alleinige Thema. Vielmehr nimmt die Ausstellung deren Exponatbestand zum Anlass, um grundsätzlich über den Zusammenhang von Blick und Körper, die Wechselwirkung von Objekt und Betrachter nachzudenken. Im Zentrum steht also das Sehen selbst und die Art und Weise, wie es unsere Vorstellungen vom Körper mitbestimmt. Dabei nimmt sie auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungslinien in den Blick, von denen unser Sehen bis heute geprägt ist.Der Schwertschlucker, Dresden um 1900, Hersteller: Werkstatt Rudolf Pohl (1852 – 1926), © Deutsches Hygiene-Museum, Foto: David BrandtIm einführenden Raum der Ausstellung werden die Besucher unvermittelt mit ihren eigenen Empfindungen und Gedanken zum Thema Körper konfrontiert. Er zeigt die hyperrealistische Skulptur einer nackten Frau, die wie auf einem Seziertisch präsentiert wird. Die Arbeit des Künstlers Paul McCarthy bündelt schockartig die Fragestellungen der Ausstellung: Wie betrachten wir den Körper? Welche Empfindungen löst dieses Sehen aus? Wie verhalte ich mich zu meinem eigenen Körper? Was ist Wissenschaft, was Kunst, was zeigt ein Museum?Paul McCarthy, That Girl (T.G. Asleep), 2012-2013, Courtesy the artist and Hauser & Wirth, © Foto: Genevieve HansonDie nun folgenden Werke überwiegend zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen werden in einem White Cube, der klassischen Form einer Kunstausstellung, gezeigt. Sie sind in drei große Bereiche untergliedert, in denen individuelle und kollektive Perspektiven auf den Körper ausgedeutet werden.

Beim Thema „Grenzen des diagnostischen Blicks" geht es um Aspekte des Individuums, um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, durch Bilder des Körpers Erkenntnisse zu vermitteln oder diesen zu repräsentieren (Paul Thek, Paul McCarthy, Luc Tuymans). Dabei beschäftigt die Künstler und Künstlerinnen auch das Thema von Norm und Abweichung sowie die poetische Umwertung tabubehafteter Themen (Pia Stadtbäumer, Asta Gröting). Der (männliche) Blick wird gleichermaßen kreativ befreit wie auch kritisiert (Marcel Duchamp, Hannah Wilke).

Ein weiterer Bereich zeigt den „Körper unter Druck", der Körpermodelle sowie deren (De-)Konstruktionen auch in metaphorischer Darstellung vorführt. Insbesondere Künstlerinnen nutzen das Bild der Hysterie und des Schocks, um den beherrschenden männlichen Blick zu kritisieren (Valie Export, Louise Bourgeois, Alexandra Bircken). Selbstverletzung als Grenzerfahrung und politische Agenda prägen die Körperpräsentationen von Rudolf Schwarzkogler und Orlan, wohingegen Cindy Sherman, Mike Kelley und auch Damien Hirst mit Körper-Repräsentationen jonglieren, in denen echt und falsch, lebend und tot auf traumatische Weise miteinander verwoben sind.Alexandra Bircken, Aprilia, 2013, Sammlung Philipp und Christina Schmitz-Morkramer, Hamburg, Courtesy of BQ, Berlin; Herald St, London, © Foto: Roman März, Berlin

Schließlich fasst der „Körper als Austragungsort von Debatten" Fragen des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv zusammen. Die Arbeiten von Robert Gober thematisieren Homosexualität in ihren individuellen wie auch gesellschaftlichen Dimensionen. In den malträtierten Körpern der Ensembles von Bruce Nauman erscheinen bildhaft Folter und Krieg als bedrohende, formende Kraft.

Im Anschluss an den White Cube wirft das zweite Kapitel der Ausstellung Wunderkammer in verdichteter Form historische Streiflichter auf die Vorgeschichte der Anatomischen Wachskabinette. Schon seit der Renaissance hatten sich Wissenschaft und Kunst gleichermaßen für die Anatomie des menschlichen Körpers interessiert. In den Werken von Albrecht Dürer oder Andreas Vesalius verbinden sich wissenschaftliche Forschung und die Rezeption der Antike zu neuen künstlerischen Darstellungsformen. Die anatomischen Wachsmodelle des 18. Jahrhunderts, wie sie sich in den Sammlungen La Specola in Florenz oder im Josephinum in Wien erhalten haben, markieren Höhepunkte dieser Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Aber es kommt noch ein Weiteres hinzu: Ähnlich wie bei den seit der Renaissance durchgeführten öffentlichen Sektionen werden in diesen Wachsfiguren nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse kunstvoll dargestellt, sondern es werden gleichzeitig Objekte und Präsentationsformen geschaffen, die die Schaulust des Publikums bedienen.Juan Valverde de Amusco, Anatomia del corpo humano composta, 1560, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Deutsche Fotothek, Aufnahme: Regine Richter

Im Zentrum der Ausstellung wird schließlich nahezu der gesamte Bestand des Dresdner Anatomischen Wachskabinetts vorgestellt. Statt einer naturalistischen Imitation seiner mutmaßlichen Präsentationsform um 1900 strebt die Szenografie der Ausstellung eine abstrahierende Rekonstruktion an. Sie bedient sich dabei moderner Materialien und Ausstattungsmerkmale, um auf der Basis zeitgenössischer Quellen die thematischen Schwerpunkte und Strukturen dieses spezifischen Wachskabinetts herauszuarbeiten. Eine weitere Besonderheit der Abteilung besteht darin, dass die Besucher über Kopfhörer in eine „Audio-Kulisse" eintauchen können, die sie in die Atmosphäre einer historischen Jahrmarktsituation versetzt. Von Schauspielern gesprochene Szenen und Dialoge vergegenwärtigen die mutmaßlichen Reaktionen des zeitgenössischen Publikums auf die ausgestellten Objekte. Auf dieser Weise wird für die heutigen Besucher ein emotionaler Zugang zu der historisch entfernten Welt der anatomischen Wachskabinette geöffnet.

Der auf das Wachskabinett folgende Surreale Raum zeigt, wie in den 1920er Jahren insbesondere surrealistische Künstler vom Phänomen des Panoptikums fasziniert waren. Auf ihre eigene Weise thematisierten sie den Körper zwischen Schrecken und Schönheit, etwa in den Arbeiten von Luis Buñuel und Salvador Dali, Max Ernst, Jindrich Štyrský oder Herbert List. Sie benutzten die bürgerliche (Ab-)Scheu vor dem Abnormalen und Tabu-Behafteten als Ausgangspunkt für ihre eigenen Werke. Ihre Realitätsverschiebungen und ihre assoziative Kombinatorik, ihre radikalen Bildfindungen waren eine kreativ-künstlerische Befreiung, die bis heute in die bildende Kunst hinein wirkt (Alina Szapocznikow, Rosemarie Trockel).Jindrich Štyrský, Untitled (aus der Serie The Movable Cabinet), 1934, © Foto: Paul HesterDie Ausstellung endet in dem Raum Sehen, in dem eine Video-Arbeit von Steve McQueen gezeigt wird. Sie zitiert einerseits Buñuels surrealistischen Klassiker Un chien andalou, durchbricht aber andererseits die chronologische Reihenfolge, indem sie die Besucher in die Gegenwart und damit an den Beginn der Ausstellung zurückversetzt.

Christoph Wingender


Blicke ! Körper ! Sensationen ! Ein anatomisches Wachskabinett und die Kunst

Deutsches Hygiene-Museum Dresden
11.10.2014 bis 28.6.2015
Gefördert von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Ostsächsischen Sparkasse Dresden und der Kulturstiftung der Länder
Der AsKI e.V. fördert das Begleitprogramm zur Ausstellung.

AsKI KULTUR lebendig 2/2014

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