Neuerwerbung der Kunsthalle Bremen: Eine niederländische Spiegelanamorphose aus der Zeit um 1640

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Ältester Hinweis auf Spiegelanamorphosen: HansTröschel (nach einer Zeichnung von Simon Vouet), Anamorphotischer Spiegel mit einem Elefanten um 1625, Kupferstich, © Foto: Kunsthalle Bremen

Überrascht steht man inmitten der Galerie holländischer Malerei des 17. Jahrhunderts vor einem Gemälde, das auf den ersten Blick abstrakt wirkt: Gelbe, rote und blaue Farbschlieren ziehen sich in konzentrischen Kreisen um eine dunkle Mitte.

Man erahnt mögliche Formen, die jedoch zerfließen, als wäre der Bildträger eine rotierende Scheibe, die alle Konturen vor unseren Augen verschwimmen lässt.

Hat sich ein modernes Bild in die Abteilung der holländischen Malerei verirrt, oder sind die Künstler des 17. Jahrhunderts die wahren Erfinder der Abstraktion, mehr als 350 Jahre vor Kandinsky? Weder die eine noch die andere Vermutung ist zutreffend. Das Bild stammt nicht von einem modernen Maler des 20. Jahrhunderts, sondern es ist mit traditioneller Lasurtechnik in Öl auf Holz gemalt und gehört aufgrund der technischen Ausführung und der Materialien eindeutig in das 17. Jahrhundert. Außerdem ist es nicht abstrakt, sondern es stellt ein bekanntes christliches Thema dar; doch dem Betrachter des Bildes an der Wand fehlt das entscheidende Instrument, um die Darstellung zu entziffern. Erst wenn das Bild waagerecht liegt und ein zylindrischer Spiegel auf der durch ein schwarzes Quadrat bezeichneten Position steht, so bündeln sich darin die gemalten Formen und man erkennt das Bildmotiv: die Kreuzigung Christi. Maria und der Lieblingsjünger Johannes stehen trauernd unter dem Kreuz, begleitet von zwei fliegenden Engeln. Die dunkle Szenerie ist dramatisch beleuchtet durch den hellen Schein hinter dem Kruzifixus.

Entstehung und Geschichte der Anamorphose

"Anamorphos" heißt auf Griechisch doppelgestaltig oder umgeformt. Der davon abgeleitete Begriff Anamorphose wird seit dem 17. Jahrhundert für Bilder verwendet, die ein Motiv bis zur Unkenntlichkeit umformen und somit zwei Ansichten haben: eine scheinbar chaotische, unverständliche und eine klare und lesbare.

Die Geschichte der gemalten Anamorphose lässt sich zusammenfassend in drei Abschnitte einteilen. Im 16. Jahrhundert entstanden erste Anamorphosen durch Verzerrung oder gedehnte Perspektive, so genannte Vexierbilder. Im 17. wurden sie durch komplizierte Spiegelanamorphosen verdrängt, die sich nur mit Hilfe zylindrischer, pyramidaler oder konischer Spiegel auflösen ließen. Im 18. Jahrhundert schließlich waren beide Varianten so verbreitet, dass sie in Form von graphischen Blättern in Augsburg und Nürnberg in großen Serien für ein breites Publikum produziert wurden.

Die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung von Anamorphosen war die Zentralperspektive, die Leon Battista Alberti 1435 erstmals beschrieb. Er erklärte das Bild als einen Schnitt durch die Sehpyramide, wobei dem Auge des Betrachters der Fluchtpunkt im Bild entspricht, in dem alle Linien zusammenlaufen. Leonardo da Vinci begann als einer der Ersten, auf dieser Grundlage mit Verzerrungen zu experimentieren. Nördlich der Alpen entwickelten Künstler in der Nachfolge Albrecht Dürers erste Formen der Anamorphose, indem sie die Fluchtlinien übertrieben dehnten, so dass sich das Motiv nur von einem einzigen, präzise festgelegten Punkt aus erkennen ließ, der zumeist in einem extrem spitzen Winkel zur Bildfläche lag.

Das wohl berühmteste frühe Vexierbild war der Totenschädel, den Hans Holbein der Jüngere 1533 in das Doppelporträt "Die Gesandten" (National Gallery, London), malte, um daran zu erinnern, dass der Tod immer präsent ist, gerade auch wenn man ihn nicht erkennt. Der Nürnberger Kupferstecher und Holzschneider Erhard Schön fertigte zur gleichen Zeit Holzschnitte an, in denen er z.T. schlüpfrige Szenen durch Zerrbilder kaschierte. Zugleich bildete die gedehnte Perspektive die Grundlage für die illusionistische Wandmalerei. Ein Kupferstich von Hans Tröschel nach einer Zeichnung von Simon Vouet, entstanden gegen 1625, ist der älteste Hinweis auf Spiegelanamorphosen. Sie tauchen ungefähr gleichzeitig in Deutschland und Frankreich auf. Die Spiegelanamorphose aus der Sammlung der Kunsthalle, die aufgrund des maltechnischen Befundes und der Komposition der Kreuzigung in die Zeit um 1640 datiert wird, gehört zu den frühen Beispielen. Nur selten lässt sich bei solchen Bildern der Künstler benennen, denn die verzerrte Darstellung entzieht sich der stilistischen Analyse. Auch der Maler der Bremer Anamorphose muss daher anonym bleiben.

Während die Vexierbilder des 16. Jahrhundert zumeist auf empirischer Basis entwickelt wurden, begannen im 17. Jahrhundert französische und deutsche Mathematiker, die theoretischen Grundlagen dieser optischen Phänomene zu beschreiben. Einer der bedeutendsten Pioniere auf diesem Gebiet war Jean-François Niceron. In seinen Traktaten "Perspective curieuse" (1638) und "Thaumaturgus opticus" (1652) erklärte er die Konstruktion von Vexierbildern und Spiegelanamorphosen in zahlreichen Varianten. Auch deutsche Jesuiten wie Athanasius Kircher und Gaspar Schott schrieben umfangreiche wissenschaftliche Bücher zu diesem Thema.

Der historische Kontext

Das früheste erhaltene Beispiel einer Spiegelanamorphose gehört als mobiles Element zu einem Augsburger Kunstschrank, der um 1630 für den schwedischen König Gustav Adolf gebaut wurde. Der Schrank enthält zahllose Schubladen und Fächer, in denen eine ganze Sammlung technischer Geräte, exotischer Naturalien, edler Kleinkunst, Münzen und Antiquitäten verwahrt wurde. Dies ist einer der wenigen Hinweise auf Funktion und Kontext von Anamorphosen. Sie gehörten offenbar zum Inventar von Kunst- und Wunderkammern, wo sie wegen ihres kuriosen optischen Effektes bestaunt wurden. Es leuchtet ein, dass eine Spiegelanamorphose nicht wie ein Gemälde an der Wand hing, sondern liegen musste, damit man den Spiegel aufstellen und die Reflexion bequem betrachten konnte, wie es der Stich nach Simon Vouet vorführt. Spiegelanamorphosen wurden daher entweder dauerhaft auf einem Tisch präsentiert oder immer wieder sorgfältig verstaut. Für die zylindrischen oder konischen Spiegel gab es passende Futterale. Außerdem findet man Spiegelanamorphosen im wissenschaftlichen Kontext. So zeigt ein anonymer französischer Kupferstich um 1700 das Kabinett eines Physikers, in dem unter zahlreichen optischen Instrumenten auch eine Anamorphose mit zylindrischem Spiegel auf dem Boden liegt.

Über den historischen Kontext der Bremer Anamorphose ist nichts bekannt. Es gibt keinen original zugehörigen Spiegel mehr, und es muss offen bleiben, ob der Rahmen der ursprüngliche ist. Auch wissen wir nichts über die frühesten Besitzer und deren Interessen. Die Kunsthalle erwarb das Bild über den Amsterdamer Handel aus der Sammlung des Kunsthistorikers Jurgis Baltrušaitis, der 1955 das bis heute grundlegende Buch über Geschichte und Bedeutung der Anamorphose verfasst hat.

Bedeutungswandel der Anamorphose

Die Technik der perspektivischen Verzerrung nutzten Künstler seit dem 16. Jahrhundert, um versteckte Motive in ihre Bilder zu integrieren. Das lag zum Beispiel nahe bei verbotenen erotischen Szenen. Es gibt aber auch zahlreiche Anamorphosen von Porträts, die die Flüchtigkeit des dargestellten Lebensabschnitts veranschaulichen.

Auch spirituelle Inhalte wie die Allgegenwärtigkeit des Todes oder das Wunder der Inkarnation gewannen in Anamorphosen an Überzeugungskraft, indem die Motive zwar vorhanden sind, aber nicht auf den ersten Blick erkannt werden, sondern der Entdeckung von einem besonderen Betrachterstandpunkt oder durch Reflexion bedürfen. In diesen Kontext gehört auch die Bremer Anamorphose der Kreuzigung: Das Mysterium von Tod und Auferstehung wird nicht im gemalten Bild wiedergegeben, sondern es erscheint in der wunderbaren Reflexion des Spiegels. Im 18. Jahrhundert sind die Mechanismen der Anamorphose so bekannt, dass sie ihre metaphysischen Konnotationen weitgehend verliert und zur virtuosen Spielerei wird. In druckgraphischen Serien verbreitet man nun auch mythologische Szenen oder Tierstücke als Vexierbilder und Anamorphosen.

Der Prozess des Sehens oder die "Blödigkeit der Augen"

Im 17. Jh. galt das menschliche Auge als eines der wichtigsten Instrumente zur Erkenntnis. Zugleich aber war man sich zunehmend darüber im Klaren, wie leicht das Auge zu täuschen sei. So erläuterte Eberhard Werner Happel 1684 Anamorphosen als Demonstrationsobjekte für die "Blödigkeit der Augen". Auch die illusionistische Deckenmalerei beruht auf anamorphotischer Verzerrung, die sich nur vom idealen Betrachterstandpunkt aus in eine überzeugende Augentäuschung verwandelt. Während die Künstler es hier darauf anlegten, eine perfekte Illusion zu erzeugen, macht die Spiegelanamorphose den Mechanismus der Wahrnehmung sichtbar: Sie zeigt zunächst die Verzerrung und löst sie erst in einem zweiten Schritt in einer Reflexion auf.

Die Anamorphose veranschaulicht aber nicht nur optische Phänomene, sondern sie besitzt auch eine philosophische Dimension, denn sie handelt von der Wirklichkeit der Malerei. Sie zeigt, dass das Bild zunächst nur eine mit Farbe bedeckte Tafel ist (wie der Künstler Maurice Denis 250 Jahre später formulieren sollte). Erst in der Reflexion des Spiegels wird das Motiv erkennbar, doch dieses Bild ist nur Schein. Damit werden die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem materiellen Bildträger, dem erzeugten Schein und der Realität sichtbar. Vor allem aber demonstriert die Anamorphose die entscheidende Rolle des Betrachters. Erst durch seine aktive Teilnahme entsteht aus dem Chaos von Linien oder Farben das verständliche Bild. Mit dem Wechsel des Standortes versetzt er das gespiegelte Bild sogar in Bewegung. Von hier aus lässt sich eine Brücke schlagen zur Kunst des 20. Jahrhunderts: Medienkünstler wie John Cage, Dan Graham oder Peter Campus kalkulieren gezielt mit dem Betrachter, dessen aktive Beteiligung das Kunstwerk erst vollendet.

Dorothee Hansen

AsKI-Newsletter KULTUR lebendig 1/2005

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