Maxim Kantor - ‘Ödland. Ein Atlas‘. Eine Ausstellung der Graphischen Sammlung im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main

 

Maxim Kantor ‘Ödland. Ein Atlas‘, Blatt 64: Haus und Baum, Radierung, Aquatinta, Hochdruck 1999-2000, Foto: Ursula Edelmann, Frankfurt a.M.Eine Premiere: Als erste Station zeigt die Graphische Sammlung im Städelschen Kunstinstitut vom 2. September bis zum 28. Oktober 2001 die jüngste Arbeit des russischen Künstlers Maxim Kantor.

Dabei handelt es sich um einen umfangreichen druckgraphischen Zyklus zu einem altbekannten und jetzt wieder aktuellen Thema: Russland zwischen Ost und West, zwischen Asien und Europa. Mit diesem Zyklus hat Kantor nicht nur seine bislang dichteste Auseinandersetzung mit dem Medium der Malergraphik vorgenommen, sondern auch in einem umfangreichen begleitenden Text, der im Katalog mit veröffentlicht wird, seinen künstlerischen Standort neu definiert.

Maxim Kantor ‘Ödland. Ein Atlas‘, Blatt 29: Eltern und Kinder, Radierung, Aquatinta, Hochdruck 1999-2000, Foto: Ursula Edelmann, Frankfurt a.M.Der 1957 in Moskau geborene Kantor ist dem deutschen Publikum vorwiegend als Maler bekannt. Seine plakative Farbigkeit, der heftige malerische Gestus und die Drastik seiner sozialkritischen Themen haben dazu geführt, dass man vor allem seine Bezüge zum westeuropäischen Expressionismus wahrgenommen und ihn als Neoexpressionisten verstanden hat. Damit ist aber nur ein charakteristischer Zug seines Werks beschrieben, der sich vor allem Ende der 80er- bis Anfang der 90er-Jahre zeigte. Das veranschaulichte bereits die letzte große Einzelausstellung seiner Werke 1998 in der Frankfurter Schirn, auf der erstmals auch druckgraphische Werke in größerem Umfang zu sehen waren. So wird an Kantors Frühwerk deutlich, dass ihm auch die Reduktionen des Magischen Realismus nahe stehen und es in seinen Bildern von Anfang an eine Tendenz zur Transzendierung des gegenständlichen Bildsinns gibt, in der er sich als ein Max Beckmann verwandter Geist erweist.

Dem Besucher soll ein solcher Vergleich durch die momentan in der Graphischen Sammlung ausgestellten zwei Mappenwerke von Beckmann aus dem Jahr 1922, den "Jahrmarkt" und die "Berliner Reise", nahe gebracht werden. Mit den aufeinander folgenden Ausstellungen ist aber nicht nur beabsichtigt, den Besuchern zwei Sonderpositionen des Expressionismus, eines Sammlungsschwerpunktes des Hauses, vorzustellen. Es soll darüber hinaus erhellt werden, inwieweit Kantor über seine deutlich ablesbaren westeuropäischen Bezüge hinaus den russischen Traditionen verpflichtet ist.

Der Zyklus "Ödland. Ein Atlas" umfasst 70 großformatige Blätter, die in einer kombinierten Technik von Radierung und Aquatinta in schwarzweiß sowie in einem Hochdruckverfahren rot gedruckt sind. Die Bildgegenstände nehmen zu einem nicht geringen Teil Themen und Motive auf, wie sie Kantor seit Beginn seines Schaffens Ende der 70er-Jahre entwickelt hat. Diese Treue zu seinen Bildgegenständen und ihre nur allmähliche Erweiterung ist ein wesentliches Merkmal seiner Kunst. Die als existentielle Metaphern zu verstehenden Bilder von Menschen, familiären Beziehungen, lebensweltlichen Bedingungen und sozialen Phänomenen werden in dem Zyklus mit Sinnbildern für historische Ereignisse verschränkt. Sie sind mit einem in Russland seit Peter dem Großen in historischen Umbruchzeiten immer wieder auftauchenden Thema verknüpft, das auch den Hintergrund für die aktuellen politischen und kulturellen Diskussionen bildet: Die Frage, inwieweit sich Versuche der Europäisierung als segensreich erweisen und welche russischen Besonderheiten ihr entgegenstehen, wird von Kantor mit polemischer Schärfe, aber auch mit äußerster persönlicher Aufrichtigkeit neu gestellt. Seine Bildwelt wird durch diese Kontextualisierung um eine nationale Thematik erweitert.

Maxim Kantor ‘Ödland. Ein Atlas‘, Blatt 7: Einsame Masse, Radierung, Aquatinta, Hochdruck 1999-2000, Foto: Ursula Edelmann, Frankfurt a.M.Kantors erklärte Absicht ist es, mit dem Zyklus einen Kodex als ethisches Regelwerk für die Gegenwart bereitzustellen. Schon früher klang in den bildlichen Werken, wie in seinen immer wieder auch schriftlich formulierten Äußerungen, an, in wie starkem Maße es ihm um eine Erneuerung der Werte der russischen Kultur geht. Für diese unter den neuen Bedingungen des russischen Alltags allgemein gültige Bezugspunkte zu finden, die eine Rückbindung an die russische Geschichte ermöglichen, wird auch als ein wesentliches Anliegen in seinen zu dem Zyklus gehörigen sieben Briefen deutlich. Sie sind an zwei imaginäre Gesprächspartner, eine Geliebte und einen Freund in Ost und West, abwechselnd gerichtet und nehmen die Form der berühmten "Philosophischen Briefe" von Pjotr Tschaadajew auf, die, 1836 erstmals veröffentlicht, den historischen Auftakt zu den nachfolgenden Slawophilen-Westler-Debatten bildeten. Anders als Tschaadajew unterzieht Kantor in ihnen aber auch die westliche Gesellschaft einer scharfen Kritik, die in eine überraschende Umwertung der Werte der Gegenwartskunst mündet.

Maxim Kantor ‘Ödland. Ein Atlas‘, Blatt 19: Nasse Schuhe und Heizung, Radierung, Aquatinta, Hochdruck 1999-2000, Foto: Ursula Edelmann, Frankfurt a.M.Kantor ist mit seinem bezugsreichen und äußerst reflektierten Werk eine singuläre Erscheinung in der gegenwärtigen Kunstlandschaft in Russland. Was dem westlichen Rezipienten fremd erscheint, sollte als Ausdruck einer kulturellen Differenz und eines anders gearteten Denkens verstanden werden, das sich in der Geschichte des deutsch-russischen Kulturverhältnisses stets als fruchtbar erwiesen hat. Welche Resonanz Kantors provokantes Ringen um eine neue Verankerung der Kunst im Humanen hier zu Lande finden wird, ist mit Spannung zu erwarten.

Dr. Ulrike Goeschen
freie Mitarbeiterin in der Graphischen Sammlung
des Städelschen Kunstinstituts, Frankfurt am Main

Der bei Cantz erscheinende Katalog beinhaltet alle 70 Druckgraphiken des Zyklus (Originalgraphik-Auflage: 75 Mappen), sieben künstlerische Briefe und einen wissenschaftlichen Text.

AsKI KULTURBERICHTE 3/2001

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