Kleist-Museum, Frankfurt (Oder) : "Ein Stück Kleist" - Neuerwerbung eines Brieffragments

14. März 1803, Brief an Ulrike von Kleist [Fragment],  Foto: © KleistMuseum

Am 21. November 2016 erreichte das Kleist-Museum eine Mail des Frankfurter Stadtarchivars: „Liebe Kollegen, beim ZVAB fand ich folgende – aber ziemlich teure – Kleist-Handschrift." Die Nachricht elektrisierte, eine kleine Sensation, dass bei ZVAB ein Kleistautograph angeboten wurde und „sensationell" auch der Preis: 35.000 € für einen Brief-Abschnitt, sieben Zeilen Kleist mit Unterschrift und Datumszeile

Die ausführliche und kenntnisreiche Beschreibung der Handschrift unterstrich den besonderen Charakter des Angebots, der Abschnitt galt seit 1908 verschollen.

Nach mancherlei Diskussionen auch mit Fachleuten fassten wir zu Beginn des Jahres 2017 den Entschluss: das Kleist-Museum würde versuchen, die Briefrarität zu erwerben. Erste Gespräche mit dem Anbieter, dem Wiener Antiquariat INLIBRIS, in Sachen Kleist nicht unbekannt, waren nicht einfach. Der Preis war nicht verhandelbar und zu einer Reservierung des Briefes, bis die Kaufsumme refinanziert wäre, schien man nur zögerlich bereit.

Eine Finanzierung aus eigenen Mitteln war unmöglich, da das Kleist-Museum keinen Ankaufsetat hat. So begann ein aufwendiger und langwieriger Prozess: Experten mussten gewonnen werden, Gutachten erstellt, die Provenienz des Briefes geklärt und der Anbieter um Geduld gebeten werden. Schließlich erklärten sich die Kulturstiftung der Länder und das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg bereit, jeweils ein Drittel des Kaufpreises zu tragen.

Nun stand das Kleist-Museum vor der Aufgabe, so schnell wie möglich das letzte Drittel der Kaufsumme aufzubringen. Die Entscheidung fiel, zum Endspurt des Jahres eine öffentliche Spendenaktion zu organisieren: „'Ein Stück Kleist' für alle. Helfen Sie mit, einen Kleistbrief nach Frankfurt zu holen!" Wir „verkauften" für eine Spende die 66 Wörter und 19 Satzzeichen des Briefabschnitts, die Spender bekamen ein passpartouiertes Faksimile des Textes mit Transkription und Kennzeichnung des erworbenen Zeichens oder Worts. Für 35 € wurden Punkt, Komma, Strich angeboten, Wörter „kosteten" zwischen 50 und 150 €. Selbstverständlich konnte so nicht ein Drittel des Kaufpreises erzielt werden, dennoch entschieden wir uns, jedes Zeichen/Wort nur einmal anzubieten und auf die Wirksamkeit des besonderen Spendenaufrufs zu vertrauen. Bis zum Jahresende waren alle Zeichen verkauft, die meisten „Käufer" kamen natürlich aus der Kleist-Stadt selbst, aber parallel erhielten wir Mails, Briefe und Spenden aus ganz Deutschland. Die Liste der Spenderinnen und Spender reicht von Flensburg bis Wien, vom Allgäu bis nach Usedom, von Frankfurt an der Oder bis nach Frankfurt am Main. Zu Beginn des neuen Jahres war klar: Die „Eigenmittel" in Höhe von 11.367 € sind erreicht, die Voraussetzungen für die Kofinanzierung durch Kulturstiftung und Land Brandenburg erbracht. Am 19. Februar ging es nach Wien, seit dem 20. Februar 2018 sind die Sammlungen des Kleist-Museums um einen bedeutenden Schatz reicher!

Diese ausführliche Darstellung des Ankaufs ist der Wichtigkeit des Erwerbs dieser Handschrift sowohl für das Kleist-Museum im speziellen als auch für die Kleist-Forschung im allgemeinen geschuldet und spiegelt ein Dilemma vieler bewahrender und forschender Kulturinstitutionen. Private Sammler sind häufig in der Lage, auf Auktionen angebotene Kulturgüter schnell und unkompliziert zu erwerben und seltene Exponate werden so der Forschung und Präsentation entzogen.

Heinrich von Kleists materielle Hinterlassenschaft ist verschwindend gering. Erhalten sind zwei Abbildungen des Dichters, zwei – unvollständige – Dramenmanuskripte und 18 Gedichtabschrifte, zwei redaktionelle Bearbeitungen fremder Aufsätze, acht Stammbucheinträge bzw. Neujahrswünsche und 172 Briefe – allein diese sind auf 32 Institutionen und drei private Besitzer an 29 Orten verteilt. 98 Briefe sind als Folge des Zweiten Weltkriegs in Kraków verwahrt, andere finden sich in Schweden und England, Tschechien, Österreich, Italien und der Schweiz. Noch nach 1900 gingen mehr als 50 Autographen verloren oder gelten als verschollen, eine Folge des Krieges, aber auch der privaten Verwahrung von Briefen. Privater Besitz muss nicht verzeichnet werden; zuletzt wechselte 2014 eine Kleist-Handschrift aus dem Unseld-Nachlass den Besitzer, der private Erwerber möchte anonym bleiben, die Spur des Briefes verschwindet.

Ohnehin ist es Zufällen geschuldet, dass eine Handschrift wieder auftaucht. Auch von dem hier besprochenen Briefabschnitt fehlte seit 1908 jede Spur. Heinrich von Kleist schrieb den aus einem Doppelblatt bestehenden Brief am 13. und 14. März 1803 aus Leipzig an seine Schwester Ulrike. Der Brief markiert einen Wendepunkt in Kleists Leben, seinen Plan, in der Schweiz „im eigentlichsten Sinne ein Bauer [zu] werden", hat er ad acta gelegt, sein erstes Drama ist erschienen, er nimmt „Unterricht in der Declamation" und konstatiert „der Mensch müsse das Talent anbauen, das er in sich vorherrschend fühle". Kleist will nach Frankfurt zurückkehren und „ein paar Monate bei euch arbeiten [...] ohne mich mit Angst, was aus mir werden werde, rasend zu machen".

Der Brief ist eines der seltenen Zeugnisse positiver Lebenshaltung des Dichters, sein Schluss verweist neben der seltenen privaten Mitteilung auf einen Prätext Wielands und allein die wenigen Zeilen geben Aufschluss über Schreibstrategien Kleists, Mehrfachcodierungen, die ihn als Dichter auszeichnen. Eine Besonderheit des Briefes liegt auch in seiner Teilung. Ulrike von Kleist ist, trotz der Verweigerung jeder Auskunft über den Bruder, nach dem Tod des Dichters eine der wichtigsten Überlieferinnen Kleist'scher Briefe. Diese besonders innigen Zeilen Kleists an die Familie hat sie abgetrennt und verschenkt. Auch die Art der Weitergabe gibt Anlass zu näheren Untersuchungen. Wer etwa ist Ida Jochmus, die auf der Rückseite des Briefabschnitts ihren Besitz dokumentiert hat?

Dr. Hannah Lotte Lund und Dr. Martin Wilke beim Start der Spendenaktion „Ein Stück Kleist für alle“, © KleistMuseum

Das Kleist-Museum betreibt objektgebundene Forschung, dabei bilden die Handschriften Kleists den primären Gegenstand. Ein Schwerpunkt liegt dabei derzeit in Untersuchungen zur Materialität von Papier und Schrift, die nur am Original vollzogen werden können.

Erstes Ergebnis der Arbeit mit dem neuen Sammlungsobjekt ist die Sonderausstellung „Ach! Echt? Kleist. Die Ausstellung zum Neuerwerb", die am 22. April im Beisein aller Zuwendungsgeber und vieler privater Spenderinnen und Spender eröffnet wird. Pünktlich zum Ereignis erscheint die Ausgabe Nr. 9 der Reihe „Faksimiledrucke aus dem Kleist-Museum", mit Präsentation, Dokumentation und erster wissenschaftlicher Bearbeitung des Briefabschnitts und seiner Provenienz. Seit 1993 dokumentiert das Haus mit dieser Reihe bedeutende Objekte. Damals war, ebenfalls mit Unterstützung der öffentlichen Hand, der sogenannte „Bekenntnisbrief" an Adolphine von Werdeck gekauft worden, ein für das Selbstverständnis und die künftige Erwerbungspolitik der Institution wegweisender Schritt.

2017 besaß das Kleist-Museum sieben Kleist-Handschriften, sie wurden nach der Öffnung des Marktes kontinuierlich für die Handschriftensammlung angeschafft, zwei Autographen werden als Dauerleihgaben verwahrt.

Mit dem Erwerb dieses einzigartigen Autographs wird die Position des Kleist-Museums als weltweit einzigem Museum für den Dichter Heinrich von Kleist in Frankfurt an der Oder, seinem Geburts- und Studienort, mehrschichtig gestärkt.

Anette Handke
Öffentlichkeitsarbeit Kleist-Museum, Frankfurt (Oder

 

AsKI KULTUR lebendig 1/2018

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