Kleist-Museum, Frankfurt (Oder) : Bühnenwelten

Karl Poppitz, Die Hermannsschlacht (Detail), Harzer Bergtheater Thale, 1957, Foto: Tobias TanzynaEintauchen in Theatergeschichte – analog, virtuell, immersiv!
Das Kleist-Museum lädt ein zu einer Sammlungspräsentation, die kaum spannender sein könnte, denn die Ausstellung wird experimentell durch eine virtuelle Präsentation erweitert.

Ausgangspunkt ist der umfangreiche Bestand an Bühnenbildmodellen. 42 zu Inszenierungen Heinrich von Kleists hat das Museum derzeit, von denen das eine oder andere Exemplar immer mal wieder in einer Ausstellung auftauchte. Nun stellen die Kuratorinnen Viviane Meierdreeß und Milena Rolka, beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im Kleist-Museum, diese Bühnenbilder in den Mittelpunkt ihrer Ausstellung „Bühnenwelten. Eine immersive Ausstellung zu Bühnenmodellen". 27 Bühnenmodelle aus 65 Jahren Theatergeschichte zeigen die Vielfalt der Interpretationen Kleists auf dem Theater, in neun Stationen, die in loser chronologischer Folge die Objekte u.a. nach der Art ihrer Entstehung spezifizieren.

Ursprüngliche Aufgabe dieser kleinen Illusionsbühnen war es, als Arbeitswerkzeug im Theater zu dienen, die Gestaltung der Bühne zu illustrieren und bühnentechnische sowie theatral-gestalterische Aspekte (zum Beispiel Raumordnung, Farbgebung, Sichtachsen und Beleuchtungseinrichtungen bis hin zu szenischen Abläufen) zu veranschaulichen. Als Entwurfsmodelle begleiteten sie den Arbeitsprozess bis zur Premiere eines Theaterstückes. Die Minibühnen wurden in der Regel aus wenig hochwertigen Materialien hergestellt und nicht aufbewahrt, im Vordergrund stand ihre Funktionalität. Als sammlungswürdiges Objekt wurden sie kaum wahrgenommen.

Dieter Berge (Modell), Gerhard Swiglowski (Überar­beitung), Der zerbrochne Krug, Maxim Gorki Theater Berlin, 1961, Foto: Tobias Tanzyna

Spätestens ab den 70er-Jahren hat das Kleist-Museum Rekonstruktionsmodelle in Auftrag gegeben, also Bühnenmodelle angefordert, die nach der Inszenierung zur Dokumentation angefertigt wurden. Von diesen Modellen hat das Haus besonders viele, da sein erster Direktor, Rudolf Loch, die Aufbewahrung von Zeugnissen der theatralen Kleistrezeption als vordringliche Aufgabe ansah. Dabei handelt es sich sowohl um Objekte der Bühnenbildner selbst als auch um von Modellbauern eingerichtete Bühnennachbildungen. Insbesondere letztere sind teilweise mit schönsten bis skurrilsten Details ausgestattet. Ein Käse, der verloren auf dem Boden liegt, ein Tisch, auf dem Feder, Tinte, ein Buch und ein Fächer akkurat aufgereiht zu sehen sind, wüste Papieransammlungen in unordentlichen Aktenregalen. All diese für die theatrale Nutzung unwichtigen Dinge machen aus den Modellen wunderbare historische „Puppenhäuser".

Gabriele Koerbl (Entwurfszeichnung zum Bühnenbild), Der zerbrochne Krug, Volksbühne Berlin, 1983, Foto: Tobias Tanzyna

Als dritte Art sind in der Ausstellung Objekte aufgereiht, die (auch) selbstständige Kunstwerke darstellen. Ein Beispiel ist die „Szenische Assemblage" von Carla Woisnitza, die sie mit den Tonfiguren eines zehn Jahre zurückliegenden Bühnenbildes zu „Penthesilea" erarbeitete und als Kunstwerk ganz von dem Bezug auf die ursprüngliche Inszenierung emanzipierte. Ein weiteres Objekt ist das Bühnenmodell von Gabriele Koerbl zum 1983 inszenierten „Zerbrochnen Krug" an der Volksbühne Berlin. Das auch farblich eindrucksvolle Modell dokumentiert einen fantasievollen Umgang mit dem Raum und nimmt gleichzeitig die Rückseiten in die Gestaltung mit hinein: Ausschnitte aus dem Programmheft zur 1983er Inszenierung legen Spuren zu Kleists Leben und der – glücklosen – Uraufführung seines wohl berühmtesten Theaterstückes. 

Gabriele Koerbl, Der zerbrochne Krug, Volksbühne Berlin, 1983, Foto: Tobias Tanzyna

Heute sind alle drei Arten von Bühnenmodellen wichtige theatergeschichtliche Zeugnisse, die den Wandel in der Gestaltung von Bühnenbildern dokumentieren, von der ursprünglich realistischen, historisch konkreten Gestaltung bis zum überwiegend mehrdeutigen Bühnenraum, der unterschiedliche Assoziationen durch die Zuschauer zulässt.

Die Art eines Museums, wie es seine Schätze bewahrt, wird auch durch die Gestaltung der Ausstellung versinnbildlicht. Die Bühnenbildmodelle der ersten Station im Schaudepot zum „Zerbrochnen Krug" werden wie in unserer Sammlung in einem großen Regal präsentiert, in dem neben den Objekten auch die Aufbewahrungskästen aus säurefreiem Karton gezeigt werden.

Im begleitenden Katalog schreibt Ausstellungs­gestalter Nikolai Kuchin:

„Wir möchten die kleinen Bühnen in ihrem natürlichen Lebensraum zeigen. Nicht geschützt hinter Glasvitrinen, sondern in der Vielfalt ihrer Rollen und Funktionen. Die Szenografie unserer Ausstellung, inspiriert von den Modellen selbst, baut deswegen eine Bühne auf, die ihre verschiedensten Rollen hervorhebt."

In weiteren Stationen steht z. B. der „Prinz Friedrich von Homburg" im Mittelpunkt. Anhand eines ca. 100 Jahre später entstandenen Bühnenbildmodells zur Meininger Homburg-Inszenierung von 1878 wird der Übergang vom „Bild zur Bühne" dokumentiert. Der „Theaterherzog" Georg II. leitete das Meininger Hoftheater, ein führendes Theaterhaus in Europa, und setzte sich für eine historisch korrekte Bühnen- und Kostümgestaltung ein. Daneben steht ein Modell (Bau: Günther Weinhold) der bis heute legendären Inszenierung von Adolf Dresen am Deutschen Theater (1975), die von Hans Brosch eingerichtet wurde.

Das Diorama der „Hermannsschlacht" am Harzer Bergtheater zu Thale ist das älteste Modell und Bestandteil des Ausstellungsabschnitts „Kleists Bühnen in der DDR". Gebaut wurde es 1957 für eine gesamtdeutsche Kleist-Inszenierung, die erste Aufführung des „deutschesten Dramas" seit 1944. In der NS-Zeit hatte das Stück durchschnittlich vier Neueinrichtungen pro Jahr erlebt. Die 57-er Inszenierung stand unter dem Vorzeichen des Kampfes um die Wiedervereinigung Deutschlands und war die letzte, die eine rein nationale Deutung des Stückes vornahm.

Ein gestalterischer Höhepunkt ist das Bühnenbild zur Inszenierung der „Hermannsschlacht" 1999 in der Marienkirche Frankfurt (Oder). Es wird als „eigenes Kunstwerk im Scheinwerferlicht inmitten eines abgedunkelten Raumes" präsentiert – und hat als Rahmung die maßstäblich vergrößerten Gewölbe der Kirche, die durch eine doppelte Spiegelung ins Unendliche zu gehen scheinen.

Generell sind die jüngsten Bühnen deutlich leerer und minimalistischer: Abstrakte und experimentelle Bühnenräume wurden entworfen. Modelle u.a. von Eberhard Kreienburg, Martin Fischer und Via Lewandowsky stehen dafür. Neuere Bühnenmodelle lösen sich von der klassischen Darstellung und werden zunehmend mittels digitaler Medien erstellt.

Julien Letellier von der HTW mit der 3-D-Darstellung eines Bühnenbildes, Foto: Anette Handke

Und was ist der immersive Aspekt der Ausstellung? Die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung können mithilfe zur Verfügung gestellter Tablets mit den Modellen interagieren: Es entsteht eine virtuelle Ansicht eines Bühnenbildes direkt neben dem analogen, sodass man jetzt mit dem Blick aus der gleichen Perspektive alle Seiten der Bühnenkonstruktion erkennen und vergrößern kann. Oder es erscheinen in den Bühnenmodellen die dazugehörenden Figurinen, Bühnenzeichnungen oder Szenenfotos. Die Modelle werden lebendig. Schlussendlich lässt sich ein Bühnenmodell betreten. Man erlebt um sich herum die „erweiterte Realität", ein Bühnenbild in großer, digitaler Aufmachung. Ermöglicht hat dies die Forschungsgruppe INKA der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Sie arbeitet seit 1999 am Schnittpunkt zwischen Informatik und Kultur. Gemeinsam mit dem Kleist-Museum haben die Partner entschieden, mithilfe von nativen, ohne Datenverbindung nutzbaren Anwendungen auf einem Mobilgerät die Ergänzung der realen Ausstellungsobjekte durch Augmented Reality – erweiterte Realität – um digitale Inhalte in Echtzeit vorzunehmen.

Viviane Meierdreeß konstatiert: „Mithilfe der Augmented Reality können wir einen ganz neuen Weg der musealen Vermittlung beschreiten, das erlaubt uns, Ausstellungen neu zu denken."

Und Milena Rolka ist von der Ganzheitlichkeit des Projektes überzeugt: „Es ist eine Sammlungspräsentation, die die Schätze des Kleist-Museums analog und virtuell zeigt und die die Sammlung zugleich um die virtuellen Objekte bereichert, die für spätere Online-Präsentationen zur Verfügung stehen."

Mit dieser neuen und ungewöhnlichen Form der musealen Darstellung beschreitet das Kleist-Museum neue Wege der Sammlungspräsentation.

Anette Handke | Kommunikation,
Stiftung Kleist-Museum


Stiftung Kleist-Museum, Frankfurt (Oder)
Bühnenwelten.
Eine immersive Ausstellung zu Bühnenmodellen
1. März bis 14. August 2022
www.kleist-museum.de
Katalog „Bühnenwelten. Eine immersive Aus­stellung zu Bühnen­modellen",
hg. von Viviane Meierdreeß und Milena Rolka,
87 Seiten, 50 Abb., 17,80 €

AsKI kultur leben 1/2022

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