"Jene Minuten des Schweigens ..." Transkription und Erschließung des Tonbandmitschnitts des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Fritz Bauer Institut

Lagepläne und Skizzen des Vernichtungslagers Auschwitz, im Gerichtssaal von Polizeibeamten aufgebaut, Foto: dpa

Der Tonbandmitschnitt ist eine für die Zeitgeschichtsforschung bislang nicht erschlossene Quelle von herausragender Bedeutung. Im Rahmen des Programms „Archive als Fundus der Forschung" fördert die Volkswagen-Stiftung die Transkription und Erschließung. Die Ausgangslage für die historische Forschung über den Prozeß wird damit erheblich verbessert.

Rund 500 Stunden der Hauptverhandlung liegen auf 103 Tonbändern vor und sind in einer vom Fritz Bauer Institut erarbeiteten Aufstellung auf der Grundlage des vom Schwurgericht angelegten „Verzeichnisses der Tonbänder der Zeugenaussagen im Auschwitz-Prozeß" aufgeschlüsselt worden.1

In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Rundfunkarchiv und mit finanzieller Unterstützung seitens der Hessischen Staatskanzlei hat das Institut die Sicherung des vom Verfall bedrohten akustischen Tondokuments auf digitalen Tonträgern (CD) übernommen.

Die Förderung seitens der Volkswagen-Stiftung gilt der technischen Erfassung des Dokuments in Form der Einrichtung einer Volltextdatenbank sowie der inhaltlichen Erschließung durch ein Personen-, Orts-/Länder- und Sachregister. Auf der Basis der bisher vorhandenen Prozeßdokumentationen wurde eine Vorauswahl der Personen und Sachbegriffe getroffen, die sukzessive mit der Eingabe der Transkriptionen in die Datenbank erweitert wird. Die Transkriptionen sind mehrsprachig, da einige der Überlebenden - mit Hilfe eines Dolmetschers - auf polnisch, russisch, tschechisch oder auch jiddisch aussagten. Die Datenbank ermöglicht die Dokumentation des transkribierten Volltextes und in einer vernetzten Kombination von Masken eine relationale Darstellung der inhaltlichen Informationen und ihrer Verschlagwortung.

Mit der Transkription haben Dagmar Ganßloser, Dorothea Stein, Eva Stein und Gabriele Wolter (alle Frankfurt am Main) begonnen. Detlef Balzer (Hamburg) entwickelte speziell für den Tonbandmitschnitt ein Datenbank-Anwendungsprogramm mit Abfrage- und Auswertungsfunktionen zur Texterschließung. Auf der Grundlage der vorliegenden Literatur über den Auschwitz-Prozeß und das Lager Auschwitz sowie der Akten der Staatsanwaltschaft erarbeitete Bettina Schulte Strathaus (Frankfurt am Main) einen über 2000 Schlagworte umfassenden personen- und sachorientierten Basiswortschatz, dessen Bestand und Systematik im Verlauf der Erschließung erweitert wird, und übernahm zugleich die Übertragung in die Datenbank.

Der Tonbandmitschnitt als Quelle der Zeitgeschichtsforschung

Bis heute liegen nur sehr unvollständige Mitschriften vom Prozeß vor. Die umfangreichen Tonbandaufzeichnungen sind einer systematischen Analyse unzugänglich. Der ehemalige Auschwitz-Häftling Hermann Langbein erkannte ihren Wert bereits 1965 und bemerkte, die Aufzeichnung vermittele zwar nicht Gestik und Aussehen der Zeugen, aber doch Stimme und Sprechweise und die vielen beredten Pausen, „jene Minuten des Schweigens, in welchen in dem nüchternen Gerichtssaal Auschwitz am deutlichsten spürbar wurde."2
Die Transkription des Tondokuments, dies sei vorab bemerkt, wird den Eindruck, den der Auschwitz-Prozeß auch im Nachhinein beim Hören der Tonbänder hinterläßt, noch weiter reduzieren, denn die akustischen Merkmale werden gleichsam zum Schweigen gebracht. Mit jeder Übertragung des Prozeßgeschehens verringern sich die Möglichkeiten einer authentischen Wahrnehmung. Vom Prozeßverlauf bleibt nach der Transkription nur noch die abstrakte, wenn auch spezifische Sprache von Auschwitz, die das System des Terrors kennzeichnete.

Die Transkription kann und soll das Hören des Mitschnitts jedoch nicht ersetzen, sondern in erster Linie der Forschung den Zugang zur Quelle und wissenschaftliche Recherchen ermöglichen. Die festgelegten Transkriptionsregeln und -zeichen sind nur Hilfsmittel und sollen nicht kommentieren. Sie deuten das Vorhandensein der akustischen Signale an, können ihr Fehlen aber nicht ausgleichen, indem sie auf Sprechpausen, undefinierbare Laute oder durch den Tonfall besonders gekennzeichnete Sprechweisen und Intentionen, zum Beispiel (flüsternd) oder (schreiend), verweisen.

Auch simultanes Sprechen wird in der Transkription gekennzeichnet. Die Dramatik des Prozeßgeschehens führte häufig dazu, daß mehrere Personen gleichzeitig, laut und schnell sprachen. Zum Teil erscheint der transkribierte Text dadurch fragmentarisch und unvollständig, ein Eindruck, der sich noch verstärkt, wenn simultane Übersetzungen ohnehin zur fast völligen Zerlegung eines Satzes führten und weder Dolmetscher noch Zeuge sich am Ende noch an den Anfang eines Satzes erinnern konnten. Dies erschwert die Lesbarkeit des Textes, macht aber um so stärker deutlich, daß die Interpretation des Prozeßgeschehens die akustische Quelle einschließen muß. Tonfall, Lautstärke und Sprechweise dienten - bewußt oder unbewußt - allen Prozeßbeteiligten zur „Beeinflussung" ihrer Zuhörer und sind als Mittel der Verhandlungsführung zu interpretieren.

Wilhelm Boger vor Beginn der Verhandlung, Foto: dpa

Zur Spezifik des Auschwitz-Prozesses gehörte es, daß das Gericht aus Mangel an den bei „normalen" Mordprozessen gegebenen Beweismitteln bemüht war, von jedem Zeugen einen persönlichen Eindruck zu gewinnen, um seine Glaubwürdigkeit einschätzen zu können. Die Zeugenaussagen trugen nicht nur dazu bei, das komplexe System der Vernichtung und der Verfügungskompetenzen im Lager nach und nach aufzuklären, sondern sie kamen häufig der Rekonstruktion einzelner Schicksale im Sinne von Biographien sehr nahe. Natürlich sind richterliche oder (staats-)anwaltliche Befragungen keine narrativen, lebensgeschichtlichen Interviews. Ihre Beantwortung unterliegt der Suggestion, die der Antwort den Charakter eines „Geständnisses" verleiht.3
Ebenso sind in der Zeitgeschichts-forschung immer wieder Zweifel an der methodischen Zuverlässigkeit der erzählten Lebensgeschichte als historischer Quelle geäußert worden.4

Zwanzig Jahre nach den Geschehnissen in Auschwitz, diese kritische Einschätzung der Zeugenaussagen tauchte immer wieder auf, erschienen die Aussagen der Überlebenden als defizitär zum Ereignis. Die Verteidiger versuchten, in Umgehung der Erkenntnis, daß es sich um nichts anderes als divergente Wirklichkeitskonstruktionen von Opfern und Tätern handelte, diesen Umstand zugunsten der Angeklagten zu nutzen. Die geringsten Abweichungen zwischen den einzelnen Aussagen wurden zum Anlaß genommen, das Erinnerungsvermögen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen in Frage zu stellen. Zugleich versuchten die Verteidiger den Eindruck zu erwecken, die Zeugen hätten sich im Vorfeld des Prozesses untereinander abgesprochen und vorgetragene Details nicht aus eigener Beobachtung, sondern aus der Presse übernommen. Die Überlebenden jedoch versagten im allgemeinen als Zeugen weit weniger als die Beschuldigten, die sich angeblich an „nichts erinnerten" und die sogar versuchten, Überlebende in eine falsche Solidarität mit den Tätern zu bringen.

Inwieweit die Aussagen der ehemaligen Häftlinge tatsächlich bei der Urteilsbegründung berücksichtigt wurden und in die Rechtsprechung eingingen, wurde bisher nicht gefragt. Anhand des Tonbandmitschnitts - und unter Hinzuziehung der Akten - läßt sich diese Frage beantworten. Die Ursache hierfür mag darin liegen, daß die Beantwortung der Frage das Gesamtgeschehen der „Endlösung der Judenfrage" zum Gegenstand des Prozesses machen müßte. Dies wurde vom Gericht, das die subjektiven Voraussetzungen verbrecherischer Taten untersuchen mußte, ausgeschlossen. Nicht Auschwitz, sondern die Auschwitz-Täter standen vor Gericht. Die Aussagen der Mitglieder der Wachmannschaften und der Überlebenden dienten allein dem Nachweis individueller Schuld der Angeklagten. Das wirft die Frage auf, inwieweit das individuelle Schicksal der Opfer, deren kollektive Erfahrung in der juristischen Rekonstruktion der Mordmaschinerie zu einer anonymen statistischen Größe wurde, überhaupt in der juristischen Konzeption des Prozesses berücksichtigt wurde. Die seit den Nürnberger Prozessen geführte Diskussion um die Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit bildet hier einen durchaus aktuellen Bezugspunkt.

Der Tonbandmitschnitt des Auschwitz-Verfahrens ist eine besondere Quelle, insofern als er den juristischen Diskurs über die Geschehnisse in Auschwitz, die Feststellung und Beurteilung der individuellen Taten der Angeklagten, fast vollständig dokumentiert.

Der spezifische, in den engen Bahnen einer Gerichtsverhandlung zu führende Diskurs über Auschwitz im Auschwitz-Prozeß basierte auf historischen und politisch-ideologischen Erklärungsansätzen der „Endlösung", die noch nicht erforscht wurden. Gleiches gilt für die Rechtsauffassung und das juristische Konzept, die dem Prozeß zugrunde lagen. Im Rahmen der Erschließung des Tonbandmitschnitts der Hauptverhandlung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses erstrebt das Fritz Bauer Institut eine Bündelung der Forschungen über Geschichte und Wirkungsgeschichte des Prozesses, die sich auch mit dem spezifischen justiz- und gesellschaftspolitischen Hintergrund auseinandersetzen sollten.

Dr. Irmtrud Wojak, Historikerin
Mitarbeiterin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main

Anmerkungen

1) Die Tonbänder und das Verzeichnis befinden sich seit 1989 im Hessischen Hauptstaatsarchiv (Abt. 461; Zug. 57/1989). Sie sind von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main an das Archiv übergeben worden. Der Zugang zum Original obliegt weiterhin dem Hessischen Hauptstaatsarchiv.

2) Vgl. Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation, 2 Bde. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1995, (Erstausgabe: Frankfurt am Main, Wien, Zürich: Europa, 1965), S. 16

3) Vgl. Roswitha Breckner, „Von den Zeitzeugen zu den Biographen. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews", in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Alltagsgeschichte, Münster: Westfälisches Dampfboot, 1994, S. 199-222, hier: S. 217 u. S. 200

4) Gabriele Rosenthal, „Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte", in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), (wie Anm. 3), S. 125-138, hier: S. 128f.

 

AsKI KULTURBERICHTE 1/1999

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