Integration durch kulturelle Bildung

"Wenn du in Rom bist, lebe wie ein Römer -
wenn du woanders bist, lebe, wie man dort lebt"

Diesen weisen Rat des Ambrosius haben viele Migranten, aber auch Deutsche bisher noch nicht verinnerlicht. In den letzten Jahren wurden deswegen Probleme akut, vor denen sich so mancher in Politik und Kultur, ja in unserer ganzen Gesellschaft seit Jahren gedrückt hat, aus Angst, Trägheit, Opportunismus, Ignoranz oder Teilnahmslosigkeit. Nicht selten auch aus dem Unvermögen heraus zu definieren, was unsere Kultur in Deutschland und Europa ausmacht.

Natürlich setzt Integration voraus, dass diejenigen, die zu uns gekommen sind, die Grundprinzipien der Gesellschaft bejahen, in der sie leben möchten. Wir können aber von Menschen, die aus Kulturkreisen stammen, in denen es weder Renaissance noch Aufklärung und keine Säkularisierung gab, nicht ohne weiteres voraussetzen, dass sie die Vielfalt unserer Kultur und ihren Reichtum von vornherein vollständig begreifen und damit in vernünftiger Weise umgehen können.

Die Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft ist neben der Arbeitslosigkeit eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Dieser Prozess hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf die Migranten, sondern auch auf uns selbst. Denn er setzt voraus, dass wir uns mit der Selbstbefindlichkeit unserer Gesellschaft auseinandersetzen und mit der Dynamik unserer Kultur. Man braucht Goethes "Clavigo" gar nicht zu bemühen: Wenn du dich selbst nicht liebst, kannst du andere nicht lieben. Das heißt des Weiteren: Wer sich selbst nicht annimmt, sich seiner eigenen Identität nicht bewusst ist, kann auch niemand anderen integrieren. Wir müssen uns deshalb fragen, ob bei Teilen unserer Gesellschaft die eigene Identität und Werteordnung nicht beliebig geworden ist.

Integration bedeutet, das existierende multikulturelle Nebeneinander von Parallelgesellschaften zugunsten des Miteinanders in einer deutschen Gesellschaft aufzulösen. Integration nicht nur in den Rechts- und Sozialstaat Deutschland, sondern auch in unsere Zivilgesellschaft. Migranten sind spätestens dann endgültig in unserer Gesellschaft angekommen, wenn sie deutsche Kultur wie selbstverständlich als Bestandteil ihres eigenen Lebens akzeptieren: Bach und Beethoven; Goethe, Lessing, Heine und Brecht; Dürer, Cranach, den Blauen Reiter und das Bauhaus; Kant und Popper; Kopernikus, Gutenberg, Leibniz, Röntgen, Planck und Einstein; Graf Stauffenberg, die Geschwister Scholl und Edith Stein; die Erfindung des Computers und des Penicillins; die deutsche Fußball-Elf im Halbfinale der WM 2006; und, last but not least, die Demokratie und die Idee individueller Freiheit, die Trennung von Kirche und Staat, den Rechtsstaat und die kulturelle Freiheit - gemeinsames Erbe für alle in Deutschland Lebenden. Ihre eigenen Wurzeln brauchen die Migranten deswegen nicht zu verleugnen.

Bereits heute kann die Demographie prognostizieren, dass sehr bald in den meisten großen Städten Deutschlands jeder Zweite unter 40 Jahren einen Migrationshintergrund haben wird, im Jahre 2020 stammen mehr als die Hälfte aller Berliner Kinder aus Migrationsfamilien. Diese Entwicklung macht es dringend erforderlich, für die grundlegenden Werte unseres Zusammenlebens einzustehen, sie aber auch von jedem Einzelnen einzufordern. D.h. das Zusammenleben so zu gestalten, dass die unantastbaren Grund- und Menschenrechte und die Prinzipien freiheitlich-rechtsstaatlicher Demokratie nachhaltig gesichert werden und gleichzeitig die unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen auf dieser Grundlage ihre Anerkennung finden. Die in unserem Grundgesetz verankerten Grund- und Menschenrechte kann niemand mit Hinweis auf seine Herkunft oder religiöse Überzeugung außer Kraft setzen. Unsere Grundwerte sind nicht verhandelbar. Wir sollten uns um eine neue "Kultur der Anerkennung" bemühen, darum, dass Migranten davon überzeugt sind, in unsere Gesellschaft zu gehören, die ihre Fähigkeiten und Talente zum Wohle aller Bürger braucht.

Kritisch äußern sich die Migranten selbst zu diesem Thema: "Die Integration in Deutschland ist weitgehend gescheitert", so der Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Forums in NRW, Bülent Arslan, da man es versäumt habe, Raum für ein "patriotisches Zusammengehörigkeitsgefühl" zwischen Ausländern und Deutschen zu schaffen. Statt gemeinsamer Identifikation habe es jahrelang gleichgültige Toleranz gegeben. Damit Ausländer und Deutsche zusammen statt nebeneinander her lebten, müsse es einen Mittelweg zwischen Anpassung und Wahrung der kulturellen Identität geben. Diese Meinung hat offiziell auch höchste staatliche Stellen erreicht: Laut Bundespräsident Köhler habe man die Integration schlicht verschlafen.

Was ist zu tun, um sich dieser Problematik erfolgreich zu stellen?
Ein möglicher Weg ist der einer "Integration durch kulturelle Bildung". D.h. konkret: Museen und andere Kultureinrichtungen in Deutschland übernehmen den kultur- und bildungspolitischen Auftrag, mit der Vermittlung ihrer Schätze zur Integration beizutragen.

Erfreulicherweise existieren bereits beispielhafte und sehr effektive Initiativen und Projekte, die jedoch leider von der Politik und vor allem der Öffentlichkeit nicht gebührend wahrgenommen werden. Ihr Ursprung liegt häufig in bürgerschaftlichem Engagement begründet, aber auch bedeutende Stiftungen engagieren sich für diese Thematik. Natürlich sollen Museen oder Stiftungen nicht genuine Aufgaben des Staates übernehmen, aber sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil einer erfolgreichen Integration von Migranten. Sie können manches bewegen, was der Staat nicht kann, da sie über dementsprechende Kompetenz verfügen und direkt vor Ort die Resonanz auf ihre Angebote erfahren.

Es gibt beispielhafte Projekte, mit denen Kulturinstitutionen ursprünglich aus anderen Kulturkreisen stammende Kinder, Jugendliche und Erwachsene ansprechen, um ihnen unser Bildungsgut nahe zu bringen und auf diesem Wege ihre Integration zu fördern.

So sei an dieser Stelle nochmals an das bereits im Newsletter 2/05 vorgestellte START-Programm der gemeinnützigen Hertie-Stiftung erinnert, das im Zusammenwirken mit den Schulen 300 Stipendien vergibt, um begabte und engagierte Jugendliche mit Migrationshintergrund u.a. durch verschiedenartige Bildungsseminare zur Hochschulreife zu führen. Der Ausbau und die Intensivierung der schulischen Bildung, insbesondere die Förderung der deutschen Sprache, stehen dabei im Vordergrund. Das START-Programm ist mittlerweile in fast allen Bundesländern vertreten, auch das AsKI-Mitglied Kunsthalle in Emden ist daran beteiligt.

Ebenso nochmals erwähnt seien die museumspädagogischen Veranstaltungen des Kunst- und kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg (KPZ) am Germanischen Nationalmuseum für so genannte "Übergangsklassen" mit Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft. Bei diesen Veranstaltungen "setzen die Kinder und Jugendlichen ihren kulturellen Hintergrund in Relation zur für sie erlebbaren Kultur in Deutschland". Das Museum wird "mit seinen Objekten weit mehr als ein beliebiger Ort der Information über Geschichte, Kunst und Kultur. Es wird ein besonderer geschützter Raum der Reflektion, der kreativen, spielerischen und bildnerischen Auseinandersetzung", so Thomas Brehm vom KPZ (vgl. "Kulturberichte" 2/04)

Ebenso vorbildlich ist das "MUS-E"-Programm, i.e. "Music for Schools in Europe", der Yehudi-Menuhin-Stiftung Deutschland, das Kindern den Zugang zur Musik eröffnet und sie erfahren lässt, wie sehr Vielfalt von Individualität und kultureller Herkunft jede Gemeinschaft bereichert. Diese Arbeit liefert einen unentbehrlichen Beitrag, der die Kreativität von Kindern aus sozialen Brennpunkten fördert und damit ihre Persönlichkeit und soziale Kompetenz entwickelt und festigt.

Beispielhaft ist ebenfalls Zukunft@Bphil, die von der Deutschen Bank ermöglichte Initiative der Berliner Philharmoniker mit dem Ziel, die Arbeit des Orchesters und seine Musik einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen. Menschen aller Altersstufen, unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft und Begabung sollen für eine aktive und schöpferische Auseinandersetzung mit Musik begeistert werden. Das Programm möchte die Teilnehmer in ihrer eigenen Kreativität unterstützen, selbständiges Denken vermitteln und ein kritisches Urteilsvermögen fördern. Bundesweit bekannt wurde die Initi ative durch den prämierten Film "Rhythm is it!", der die Realisierung eines Tanzprojektes unter der Leitung des britischen Choreographen Royston Maldoom dokumentiert. "Le Sacre du Printemps" von Strawinsky setzten Berliner Schüler/innen nach einem wochenlangen Training, das sie bis an ihre physischen und psychischen Grenzen brachte, in beeindruckende Tanzbewegungen um. Begleitet von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle wurde die künstlerische Leistung der jungen Tänzer/innen vom Publikum begeistert aufgenommen. Eine Erfahrung, die das Selbstbewusstsein der Jugendlichen, die auch aus Migrationsfamilien und/oder sozial benachteiligten Stadtteilen kamen, sicherlich nachhaltig beeinflussen wird.

Besonders hingewiesen sei auch auf zahlreiche Projekte zu Migration und Integration der Robert Bosch Stiftung. Die Stiftung leistet mit eigenen Initiativen einen Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderungen und unterstützt die Entwicklung und Verbreitung vor allem lokaler Ansätze für eine erfolgreiche Integration mit 1,35 Mio. Euro. Gefördert werden u.a. überzeugende Projektideen zur Integration junger Migranten im Kindergarten, in der Schule und in der Freizeit. 2005 schrieb die Robert Bosch Stiftung den Förderwettbewerb "Besser integrieren" zur Integration von Einwanderern aus der Türkei aus. Besonders berücksichtigt wurden Projekte zur Sprachförderung, zur Förderung von Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Bildungsprojekte, sportliche und kulturelle Aktivitäten sowie soziale Maßnahmen. Und erstmals im Schuljahr 2005/06 ermöglichte die Stiftung zusammen mit der Stiftung Bildungspakt Bayern 50 begabten bayerischen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund die Teilnahme am Stipendienprogramm "Talent im Land - Bayern".

Auch viele andere Kultureinrichtungen und Museen in Deutschland verfügen über das Potential, vergleichbare Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen: Die Mitglieder des Arbeitskreises selbständiger Kultur-Institute ebenso wie beispielsweise das Haus der Geschichte in Bonn, das Deutsche Historische Museum Berlin, das Museum der bildenden Künste Leipzig oder die Münchner Pinakothek. Unsere Kunst und Kultur, unsere vielfältigen Kulturinstitutionen können bei der Integration von Migranten viel bewirken, ein Beispiel geben auch für die politischen Stiftungen, den Sport, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, die Unternehmen und die Gewerkschaften.

Es handelt sich aber nicht nur um Migranten, denen wir helfen müssen, ihren Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Es gibt auch deutsche Parallelstrukturen, mit Familien, die in zweiter, dritter oder sogar vierter Generation von Sozialhilfe leben und sich aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen fühlen. Kinder, die in solchen Familien groß werden, haben erhebliche Integrationsprobleme. Die Problematik und der Zündstoff sind in beiden Fällen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ähnlich. Deshalb sollten Integrationsprojekte aus Kunst und Kultur sich an Kinder, Jugendliche und Eltern beider Gruppen gleichermaßen wenden.

Alle Kinder in unserem Land sind unsere Kinder, für deren Zukunft unsere Kultur, wir alle, ungeteilte Verantwortung tragen. Der Weg zu mehr Integration führt über die Kindergartenpflicht und flächendeckende Ganztagsschulen und über kulturelle Bildung. So können auch unsere Museen und die anderen Kulturinstitutionen einen herausragenden Beitrag leisten nicht nur zur Erinnerung an die Vergangenheit, sondern ebenso zur Vergewisserung unserer Gegenwart und zur Wegweisung in die Zukunft.

Dr. Waldemar Ritter
Politologe und Historiker, Vorstand des Deutschen Politologenverbandes

 

AsKI-Newsletter KULTUR lebendig 3/2006

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