Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg: Diskurs in empörten Zeiten. Sensible Inhalte und Objekte im Museum

Lucas Cranach d. Ä., Venus mit Amor als Honigdieb vor schwarzem Grund, nach 1537, Malerei auf Lindenholz: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (GMN), Inv.-Nr. Gm1097, Leihgabe Bayer. Staatsgemäldesammlungen, Foto: D. MessbergerMehr und heftiger denn je stehen Museen unter Druck: Schlagworte wie Postkolonialismus, Gender-Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Wokeness-Diskussionen schaffen eine jakobinische Atmosphäre, die eine sachliche Auseinandersetzung mit sensiblen Themen erschwert.

Museen werden immer weniger als Orte von Sammlungen und Artefakten, sondern zunehmend als öffentliche Einrichtungen zur Beförderung von Inklusion, Partizipation, Vielfalt und Nachhaltigkeit verstanden. Im Kontext der kontroversen Diskussion um eine neue Museums-Definition durch ICOM etablieren sich Ansprüche, die sich auch in vielen Statements internationaler Museumsdirektorinnen und –direktoren wiederfinden, so z.B bei András Szántó in „The Future of the Museum, 28 Dialogues" (Berlin 2020): Museen sollen als „Reservate der Freiheit" einen Ausgleich zu den herrschenden politischen Ungerechtigkeiten schaffen und sich zu partizipativen Plattformen des Meinungsaustauschs wandeln. Ihre neue Bestimmung ist die eines „healing" und „liberating agent for the imagination", der den Menschen ihre Würde zurückgibt. Museen sollen sich öffnen, sie wollen „artist-led and audience-focused" werden.

Das Museum wird im Zuge des gesellschaftlichen Transformationsprozesses zur Baustelle bzw. zum Labor neuer Lebensformen bestimmt: Museen seien nicht nur Schiedsrichterinnen hinsichtlich Geschmack, sondern auch hinsichtlich des Humanismus. Die besten Ideen dazu kämen „immer von den Künstlern", denen man das Museums als kreativen Spielort öffnen müsse.

Das Museum der Zukunft soll vielstimmiger werden, und die Deutungshoheit soll nicht mehr exklusiv bei den Museums-Professionals liegen. Bedeutet dies auch die Aufgabe von Deutungskompetenz, womit wir nicht nur unsere professionelle Ausbildung diskreditieren, sondern auch unsere Stimme einer historisch angemessenen, evidenzbasierten Erklärung, Verortung und Kontextualisierung von Artefakten aufgeben würden? Diese Stimme scheint mir gerade im Umgang mit sensiblen Inhalten und Objekten unverzichtbar, zumal in einer Zeit, in der sich die Grenze von privatem und öffentlichem Diskurs grundlegend verschoben hat und Konflikte konfrontativer ausgetragen werden.

Die Aggression macht vor Museen nicht halt, wie die jüngsten Festklebe-Attacken der Aktivistengruppe Exstinction Rebellion verdeutlichen. Ihr Mitgründer Simon Bramwell antwortete im Interview mit artnews.com am 23.08.2022 auf die Frage, warum der Klima-Kampf in die Museen getragen worden sei, dass Politik immer der Kultur folge. Es sei deshalb absolut richtig, dass die Aktivisten die Ideale „unserer Kultureinrichtungen zur Rechenschaft ziehen". Es sei höchste Zeit, dass die Kultur-Einrichtungen dazu veranlasst werden, die Wahrheiten unserer Zeit zu erzählen. Wir lernen daraus, dass Museen nicht nur sensible, sondern offenbar auch höchst relevante öffentliche und politische Orte sind.

Nach meinem Verständnis befördern Museen das Verstehen von Welt in Bereichen der Technik, Naturwissenschaft, Kunst und Kulturgeschichte. Als Basis dienen unser biologisches und kulturelles Erbe, im Falle des Germanischen Nationalmuseum die materiellen kulturellen Hinterlassenschaften des deutschen Sprachraums. Besonders reizvoll scheint mir dabei, dass Kultur nie monokausal ist, sondern widersprüchlich und vieldeutig. Sie arbeitet mit Metaphern und Symbolen und ist daher auch missverständlich. Kultur lässt sich mit faktenbasierter Evidenz allein nicht begreifen: Da wo die Welt nicht mehr verständlich ist, benötigen wir die Poesie, die Symbolsprache und die Metaphern der Kultur, um unsere Sehnsüchte und Ängste zu verdichten und die Gegenwart auszuhalten. Deshalb sind kulturelle Einrichtungen in unserer technisch-ökonomisch optimierten und beschleunigten Welt höchst relevant! Doch wie bleiben wir in einer zunehmend von Erregung und Empörung geprägten öffentlichen Diskussion sprachfähig? Wie können wir im Zuge einer wachsenden Dominanz von Vereinfachung und Polarisierung die Angst vor Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Missverständlichkeit abbauen und für Bedeutungsvielfalt und Ambiguitätstoleranz eintreten? (Vgl. Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018). Vielleicht, indem wir immer wieder auf den Menschen selbst verweisen?

Die Kultur kreist seit je um die Janusköpfigkeit des Menschen, thematisiert seine kreative Schöpferkraft ebenso wie seine destruktive Zerstörungswut und das Entsetzen. Der Blick zurück offenbart deshalb nicht nur Glanz, sondern auch tiefe Schatten und blutende Wunden. Das aktuelle Unbehagen an unserem kulturellen Erbe ist kein neues Phänomen, sondern Bestandteil der kulturellen Überlieferung selbst, der wir nicht entkommen und die wir nicht ungeschehen machen oder moralisierend korrigieren können. Im Umgang mit sensiblen Inhalten und Objekten müssen wir mehr denn je erklären, welchen Rahmenbedingungen die Überlieferung unseres kulturellen Erbes unterworfen war, und aus welchen Fragmenten wir unsere Vergangenheiten (re)konstruieren. Ich will dies an einigen Beispielen der aktuellen Arbeit am Germanischen Nationalmuseum erläutern.

Den Auftakt macht das in Spätmittelalter und Früher Neuzeit beliebte und verbreitete Thema der „Weibermacht", das allein schon durch seinen Begriff provoziert. Der Vorwurf von Voyeurismus und männlichem Blick lässt angesichts solcher Gemälde nicht lange auf sich warten. Doch weisen Cranachs Venus-Göttinnen mit ihrem aufreizenden Blick und der gleichzeitig zu tugendhafter Entsagung mahnenden Inschrift weit über billigen Voyeurismus hinaus. In der Interaktion von Bild und Betrachter thematisieren sie ein völlig neues, modernes Verständnis von Kunst. Die Gemälde verdeutlichen die Verführungskraft des Bildes, die im Kontext der Reformation neue Brisanz gewonnen hatte, wobei sich mit dem neuen Familienverständnis auch die Rolle von Sexualität veränderte.

https://www.gnm.de/museum-aktuell/erotik-und-verfuehrung/

Kokosnusspokal der Familie Holzschuher mit Futteral, Nürnberg um 1535, Kokosnussschale; Silber, vergoldet; getrieben, gegossen, GNM, Inv.-Nr. HG8601, Leihgabe Kunstsammlungen d. Stadt Nürnberg, Foto: D. Messberger

Dies macht auch der Kokosnusspokal der Nürnberger Patrizierfamilie Holzschuher aus der Zeit um 1535 deutlich, der in obszöner Erotik alle jene Folgen illustriert, die übermäßiger Weingenuss und aus der Kontrolle geratene Sinne zeitigen. Er führt dies just dem vor Augen, der den Pokal eben zum Trinken ansetzt, um sich dem Genuss von Wein hinzugeben. Gezeigt ist ein ebenso subtiles wie lustvoll doppelbödiges Spiel mit Erotik, Moral und Verführung, das seit der Antike die Fantasie von Literatur und Kunst beflügelte. Bereits Plinius wies darauf hin, dass der Reiz des Lasters die Kunst steigere, weshalb man sich daran erfreute, auf Bechern lüsterne Bilder einzugraben. Der Kokosnuss-Pokal wetteiferte nicht nur mit der Antike, sondern auch mit den berühmt-berüchtigten, 1524 publizierten „I modi". 1534 beschwerte sich der Nürnberger Rat über dieses „gannz schenndtlich und lesterlich püechlein", das in Nachdrucken auch nördlich der Alpen kursierte. (Vgl. Ulrich Pfisterer, Die Kraft der Libido. Peter Flötners Holzschuher-Pokal und der Fortschritt der Kunst. In: Ferenbach/Felfe/Leonhard, Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik von Kunst. Berlin/Boston 2018).

Neben nackten Körpern dürften heute in der Sammlung des Germanischen Nationalmuseums auch viele Gewaltdarstellungen ohne ihre historische Kontextualisierung verstören. Seit 2015 ruft etwa das Gemälde mit der Enthauptung des hl. Johannes des Täufers sofort jene Bilder von Hinrichtungen durch IS-Terroristen und andere radikal-islamische Gruppen wach, wie sie im Internet überall zu finden sind. Die spätmittelalterlichen Passions- und Märtyrerszenen führen Opfer wie Täter vor Augen und entfalten einen umfassenden Katalog an Gräueltaten, die das Publikum mit detailreichen und möglichst authentisch wirkenden Inszenierungen erschüttern und Mitleiden auslösen sollten. Auch diese Werke verdeutlichen die Janusköpfigkeit des Menschen als Schöpfer und Zerstörer, indem sie zum einen eine höchst verfeinerte Malkultur zelebrieren und gleichzeitig eine verstörende Lust an der Darstellung von Gewalt zeigen. Kein Detail bleibt ausgelassen, und der Kontrast zwischen den prächtigen Farben und der kalten Präzision des Schindens steigert den Gegensatz.

Meister von Freising-Neustift, Die Enthauptung Johannes des Täufers, Freising um 1490, Malerei auf Holz, GNM, Inv.-Nr. Gm1527, Foto: G. Janßen

Solche Werke führen nicht nur die alltägliche Gewalt im spätmittelalterlichen Leben vor Augen, sondern sind in ein christliches Zeichen- und Verständnissystem eingeschrieben, das wir beim Betrachten kennen sollten: Im Leidensweg Christi nimmt der Gottessohn alle Leiden der Welt auf sich und überwindet sie durch seinen Tod. Ihm folgen die Märtyrer als Vorbilder und Vermittler zu den Menschen nach. Die Bilder zeigen mit allen damals zur Verfügung stehenden mimetischen Mitteln das gesamte vor- und darstellbare Leid, das Christus für die Menschheit auf sich genommen hat. Je größer das Leid, desto größer seine Opfertat. Je anschaulicher das Leiden dargestellt war, desto mehr ging es unter die Haut und erfüllte seinen Zweck in der Compassio-Frömmigkeit.

Aber nicht nur das: Wie sehr solche Bilder den Betrachter gefangen nehmen und verführen, hatte in den Jahren 1123/25 Bernhard von Clairvaux deutlich gemacht, als er die Ungeheuerlichkeiten der Bildwerke in seinen Schriften attackierte, in der detaillierten Schilderung der dargestellten Monstrositäten aber selbst ihrer Imaginationskraft erlag. Bis zur Gegenwart trennen immer nur wenige Schritte die Bildkritik vom Bildersturm.

Im Zuge des postkolonialen Diskurses geraten derzeit viele Objekte unter Verdacht und in Kritik, da diese ein höchst widersprüchliches Weltbild tradieren. Als älteste erhaltene Darstellung der Erde in Kugelform zeigt der berühmte Behaim-Globus von 1492 das europäische Weltbild am Beginn der neuzeitlichen Globalisierung: Die portugiesischen Entdeckerfahrten erweisen sich dabei nicht nur als Dokument europäischen Wissensdrangs, sondern auch als Prozess der Kolonialisierung und Sklaverei.

https://www.gnm.de/museum-aktuell/global-seit-1492/

Vor diesem Hintergrund eröffnen sich neue Fragen bezüglich der Darstellung der „Anderen", denen wir uns in den Museen stellen müssen. Wie etwa können wir vor dem Hintergrund von „Black Lives Matter" und „Critical Race Theory" historische Darstellungen von Menschen außereuropäischer Kulturen angemessen würdigen und diskutieren? Als Beispiel sei das Gemälde mit Markgraf Karl Friedrich Albrecht von Brandenburg-Schwedt von 1737 erwähnt, auf dem ein Schwarzer Mensch in der Rolle eines Dieners seinen Auftritt hat. Die erneuerte Beschriftung verweist darauf, dass das Gemälde einer langen Tradition weißer Herrscher und Herrscherinnen folge, sich mit Schwarzen Bediensteten darzustellen. Viele Afrikaner seien im Zuge des Sklavenhandels nach Europa verschleppt worden.

Anna (Barbara) Rosina Lisiewska-Matthieu-de Gasc, Markgraf Karl Friedrich Albrecht von Brandenburg-Schwedt und ein Schwarzer Junge, Stettin 1737, Öl auf Leinwand, doubliert, GNM, Inv.-Nr. Gm1452, Foto: G. Janßen

Die Identität des Schwarzen Dieners konnte bislang nicht geklärt werden, doch scheint dies
angesichts einer im Zuge des 18. Jahrhunderts dichter werdenden historischen Überlieferung zu Schwarzen Menschen an europäischen Höfen nicht ganz aussichtslos. Im Unterschied zu den vielen anonymen weißhäutigen Dienern verfügte der Schwarze über ein Distinktionsmerkmal, das den Historiker weiterführen kann. Die Berliner Kollegen in der Abteilung Schlösser und Gärten haben recherchiert: Der Markgraf führte mehrere „Cammer Mohren" und ein Regiment, in dem auch „Mohren-Pfiffer" eingestellt waren. Einer dieser Pfeifer könnte auch auf dem Gemälde dargestellt sind: Es handelt sich vielleicht um den auf den Namen „Carl Philipp" getauften Regimentspfeifer, der eine Tochter hatte, die 1754 geboren und getauft wurde. Alternative
archivalisch fassbare Personen wären 1737 wohl schon älter gewesen bzw. wurden erst deutlich später getauft. (Ich verdanke diese Informationen Carolin Alff, Projektleitung „Koloniale Kontexte 2023", Abteilung Schlösser und Gärten Berlin)

Im Hinblick auf die Darstellungswürdigkeit und das Recht auf Individualität von Dienstpersonal im 18. Jahrhundert sei der Hinweis erlaubt, dass dies nicht allein eine Frage von Hautfarbe und Sklaverei war, sondern auch eine Folge der Ständegesellschaft, die allen Menschen der unteren Stände, unabhängig von Hautfarbe, Religion und Kultur ein Recht auf Individualität verweigerte. Darf ich als weißer Kunsthistoriker diese Frage artikulieren, ohne in Verdacht zu geraten, koloniales Unrecht zu relativieren oder gar zu verlängern?

Viele weitere ähnliche Beispiele wären anzuführen, so etwa das sich wandelnde Bild des Orientalen oder Türken seit der Eroberung von Konstantinopel 1453 und dem Frieden von Karlowitz im Jahr 1699: Es hatte eine höchst ambivalente Bedeutung angenommen und war von der Angst vor dem Anderen ebenso geprägt wie von der großen Faszination und Anziehungskraft des Exotischen. Solchen und vielen anderen, in unseren Museen aus der Zeit gefallenen historischen Artefakten können wir m. E. nur im Aufzeigen ihrer Mehrdeutigkeit, Ambivalenz und Multiperspektivität gerecht werden. Mehr denn je gilt es neue, zeitgemäße Wege zu suchen, um der Gesellschaft historisches Wissen zu vermitteln und damit zum Erhalt kultureller und intellektueller Vielfalt, zum Aushalten von Widersprüchlichkeit und Ambiguität beizutragen. Partizipation und Multiperspektivität tragen zu neuen Erkenntnissen und Sichtweisen bei, ersetzen aber weder die wissenschaftliche Fachkompetenz am Museum noch ein sorgfältiges und verantwortungsvolles Kuratieren. (Vgl. Birgit Ulrike Münch/Christoph Wagner, Postkolonialer Antisemitismus. Vorwort zum Journal für Kunstgeschichte 3, 2022). Wissenschaftliche Evidenz ist in den neuen Diskursen ebenso unverzichtbar wie ein freiheitlich respektvoller Dialog. Wenn dies an unseren Museen und Kultureinrichtungen gelingt, dann haben wir viel zur permanenten und immer neuen Übung eines demokratischen Miteinanders beigetragen. Dann können wir vielleicht sogar einige der eingangs zitierten Visionen vom Museum der Zukunft einlösen.

Prof. Dr. Daniel Hess | Generaldirektor,
Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

AsKI kultur leben 2/2022

.

xxnoxx_zaehler