Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg: Deutschlands Emigranten. Fotografien von Stefan Moses

Teofila und Marcel Reich-Ranicki, Fotografie, 1994, Germanisches  Nationalmuseum, Nürnberg, © archivstefanmoses

Im November 2011 übergab der Fotograf Stefan Moses (1928–2018) den ersten Teil seines schriftlichen Nachlasses dem Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum als Schenkung. Drei Jahre zuvor hatte die damalige Archivleiterin Birgit Jooss den Gesprächsfaden aufgenommen.

Erste Spuren dieses Austauschs haben sich in Gestalt collagierter Postkarten und mit Zeichnungen versehener Fax-Briefe im Vorgang erhalten. Beim Lesen dieser Zeugnisse hat es beinahe den Anschein, als bedanke sich der Stifter Stefan Moses beim Archiv – dabei ist er es, dem unser anhaltender Dank gebührt. Auch die Graphische Sammlung des GNM wurde mit Fotografien bedacht, aus denen die von Claudia Valter kuratierte und unten näher beschriebene Ausstellung schöpfen durfte. In diesem Jahr stiftete Stefan Moses Witwe, die Künstlerin Else Bechteler-Moses, weitere Archivalien, die von der in Publikationen und Ausstellungen zum Ausdruck kommenden ungebrochenen Wertschätzung Stefan Moses' sprechen.

„Keiner will erkannt werden", äußerte Stefan Moses einmal bezogen auf die Möglichkeiten und Grenzen von Kennen und Erkennen im fotografischen Porträt. Sein umfangreicher, erschlossener schriftlicher Nachlass – das Verzeichnis umfasst derzeit 48 Seiten – kann bei der Beschäftigung mit dem Künstler nicht das Instrument der Erkenntnis sein. Aber dem fragenden Blick verspricht er Einblicke in Arbeitsweisen, in Intensität und Dauer, mit denen sich Stefan Moses Einzelnen widmete, und in die Präzision, mit der er auswählte und anordnete. Bei den Intellektuellen unter den Porträtierten gebührt der Wiener Autorin Ilse Aichinger ein herausragender Platz. Sie teilte mit Stefan Moses das Schicksal, im Nationalsozialismus aufgrund eines jüdischen Elternteils verfolgt worden zu sein und hatte wie er nahe Verwandte im Holocaust verloren. Ihr widmete Stefan Moses ein spätes Fotobuch. Die überlieferten Vorarbeiten und die Korrespondenz mit dem S. Fischer Verlag sowie die Dokumente einer anschließend konzipierten Ausstellung erzeugen den Eindruck eines Fotografen auf der Suche nach dem treffendsten Gesamtbild einer großen Autorin. Auch anhand seiner intensiv gepflegten zwischenmenschlichen Beziehungen werden fotografische Ambitionen und Verfahren anschaulich. Im brieflichen Austausch wiederum gewinnen sein Ausdrucksvermögen, sein Sprachwitz und Humor zusätzlich an Kontur. Entsprechende Einblicke sollen im Rahmen des virtuellen AsKI-Projekts TSURIKRUFN! in einem Stefan Moses gewidmeten Beitrag ermöglicht werden.

Die Studioausstellung „Deutschlands Emigranten" findet als analoger Beitrag des Germanischen Nationalmuseums zum Programm des Festjahrs „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" statt. Zu sehen ist eine repräsentative Auswahl großformatiger schwarz-weiß Fotoprints der gleichnamigen Serie, die zu den jüngsten Projekten Moses' zählt. Die Aufnahmen selbst sind zwischen 1949 und 2003 an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Kontexten entstanden. Sie zeigen bekannte Persönlichkeiten, die mit Beginn der NS-Diktatur aus politischen oder rassistischen Gründen verfolgt wurden und Deutschland verließen. Nur zögernd kehrten einige von ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, denn vor allem für Jüdinnen und Juden war die Remigration in das frühere Lebensumfeld belastend.

So begegnet man auf den Porträts verschiedenen Prominenten, die das öffentliche Leben nicht nur in Deutschland bis in die 2000er-Jahre wesentlich mitbestimmten. Hierzu gehört der in Berlin aufgewachsene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Bei dem Doppelbildnis mit seiner Frau Teofila ist es Moses gelungen, das Ehepaar in entspannter, einander zugewandter Körperhaltung und heiterer Gemütslage abzulichten. Anstelle von Optimismus und Zuversicht spiegeln Mimik und Gestik anderer Porträtierter jedoch vielmehr Verletzlichkeit und Besorgnis – alles subjektive Facetten der gemeinsamen Erfahrung von Emigration und Exil.

TSURIKRUFN! Erinnerung an Stefan Moses

Die individuellen Lebensläufe werden auf den Fotografien darüber hinaus in den verschiedenen Settings erkennbar. Einige Porträts folgen dem Konzept der sorgfältigen Inszenierung unter ähnlichen Rahmenbedingungen. Ein Beispiel ist der in den 1960er-Jahren begonnene und über Jahrzehnte von Moses verfolgte Zyklus „Große Alte im Wald" mit Aufnahmen von Willy Brandt, Tilla Durieux u. v. a. als Ganzfigur in natürlicher Kulisse posierend. Mehrere „Große Alte" wurden in „Deutschlands Emigranten" integriert und auch andere Bilder kennt man aus früheren Buchpublikationen des Fotografen: Die Serie ist eine Art Resümee seines Schaffens, das in der modernen Porträtfotografie neue Maßstäbe gesetzt hat.

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie erklärt sich Moses Interesse am Schicksal deutscher Emigrantinnen und Emigranten und seine Empathie, die in vielen seiner Bilder erkennbar wird: „Jeder hat seine Aufgabe. Meine ist: Menschen festzuhalten, bevor sie verloren gehen. Die Fotografie ist lebenslange Erinnerungsarbeit."

Dr. Susanna Brogi · Dr. Claudia Valter  |
Leiterin bzw. stellv. Leiterin des Deutschen Kunstarchivs


Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Deutschlands Emigranten. Fotografien von Stefan Moses
3. März bis 3. Oktober 2021

 

AsKI kultur leben 1/2021

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