Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt am Main : Die Schädel des Carl Gustav Carus

Rudolf Julius Hübner, Carl Gustav Carus, 1844, Öl auf Leinwand, Freies Deutsches Hochstift, Foto: David Hall

Zu einem Porträt, das im Deutschen Romantik-Museum nicht zu sehen ist
Museumsobjekte verändern ihre Bedeutung, wenn man sie im Licht aktueller Debatten und Erfahrungen neu betrachtet. So kann es geschehen, dass ein Stück, das seit jeher zum Kernbestand der Sammlung und zur Grunderzählung der Institution gehörte, bei der Neugestaltung des Museums nicht mehr zu Zuge kommt.

Das Deutsche Romantik-Museum zeigt seit seiner Eröffnung im September 2021 in 35 Stationen chronologisch geordnet verschiedene Facetten der Romantik. Im Zentrum jeder Station steht ein Objekt der Sammlung, dessen Besonderheit durch weitere Exponate und gestalterische Inszenierungen vertieft wird. Ein Kandidat für eine solche Station war Julius Hübners großformatiges Porträt des Arztes und Naturforschers Carl Gustav Carus (1789-1869), das seit 1932 in allen Dauerausstellungen gezeigt wurde. Carus war ein äußerst produktiver Gynäkologe, Anatom und Psychologe, der u.a. auch als Goethe-Biograph erheblichen Einfluss auf die Wissenschaft und Kunst seiner Zeit hatte. Zudem war er als Maler erfolgreich.

Die Ausstellungsstation hätte vom Werk eines naturphilosophisch befeuerten Naturwissenschaftlers gehandelt, der stark durch Goethe beeinflusst war – nicht zufällig ruht Carus' Hand auf seinem osteologischen Hauptwerk „Von den Ur-Theilen des Knochen- und Schalengerüsts" (1828), das von Goethe befördert und enthusiastisch begrüßt wurde. Was aber wäre die Aussage der Station gewesen?

In der Ausstellung von 1932 hatte das Porträt eine klare didaktische Funktion. Der Forscher mit dem eindrucksvollen Kopf, dessen Werk damals eine Renaissance erlebte, sollte als Brücke zu den Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts fungieren und auf diese Weise seinem Freund Goethe im „Meinungskampf der Gegenwart", wie es damals hieß, eine gute Position sichern. Knapp 100 Jahre später konnte es nicht mehr darum gehen, die Bedeutung eines Lebenswerks durch das suggestive Porträt seines Urhebers zu erweisen. Stattdessen sollte das Bild selbst ein Thema setzen, das sich mit anderen Themensträngen der Ausstellungen verbinden ließ. Was aber ist auf dem Bild zu sehen?

Ausschnitt, Rudolf Julius Hübner, Carl Gustav Carus, 1844, Öl auf Leinwand, Freies Deutsches Hochstift, Foto: David Hall

Auffällig ist die malerische Behandlung des Kopfes. Der mittlere Stirnbereich ist durch die dramatische Verteilung von Lichtreflexen und Schatten zu einer regelrechten Landschaft geformt. Dass Hübner die beiden Stirnhöcker („Tubera frontalia") ohne eingehende Diskussion mit dem Freund auf diese Weise gestaltete, ist nicht anzunehmen, da Carus gerade zu dieser Zeit die zentralen Thesen seiner Schädellehre entwickelte. In seiner Theorie deuteten die Stirnhöcker auf „die Anlage zu einem scharf unterscheidenden trennenden Verstande", wie er später in der „Symbolik der menschlichen Gestalt" (1853) schrieb.

Diese Beobachtung ist von besonderem Interesse, da Carus zur selben Zeit eine etwa 300 Stücke umfassende Sammlung mit Originalschädeln und Abformungen anlegte: eine Galerie genialer Geisteshelden, die in ein System inferiorer Schädelformen eingepasst wurden, in dem „Race" und Geschlecht, aber auch Alter, Verbrechen und Wahnsinn als Kategorien firmierten.

Der systematische Anspruch der Schädelforschungen trat am deutlichsten 1849 hervor, als Carus zu Goethes 100. Geburtstag in Dresden einen Vortrag „Über ungleiche Befähigungen der verschiedenen Menschheitsstämme für höhere geistige Entwickelung" hielt. Hier entwickelte er ein weltweites Klassifikationsschema der verschiedenen „Racen oder Stämme", von den „körperlich und geistig unvollkommener ausgestatteten" „Nachtvölkern" im Süden Afrikas über die „Dämmerungsvölker" im Osten und im Westen bis hin zu den „Tagvölkern" im Norden, der „eigentlichen Blüthe der Menschheit". Im Zentrum stand Goethe, der ihm nicht nur „vollkommener Prototyp aus den Tagvölkern" war, sondern zugleich „Inbegriff einer gesunden vollkräftigen Natur mit der angebohrenen Verehrung der Kunst".

Diese Zusammenhänge hätte die Ausstellungsstation erläutern müssen, um nicht unreflektiert Ideologeme des 19. Jahrhunderts zu reproduzieren. Die dazugehörigen Dokumente wie etwa Carus' überarbeitetes Handexemplar seiner „Schädellehre" (1841) lagen vor.

Eine solche analytische Kraft zeige sich fast nur an individuell ausgebildeten männlichen Schädeln, während eine ebenmäßige Ausbildung, „leer und rund", vor allem bei Kindern, Frauen und Afrikanern anzutreffen sei, wo sie „immer ein ungünstiges Zeugniß für den Geist" darstelle.

Nach eingehender Diskussion entschied sich das verantwortliche Team gegen eine eigene Ausstellungs­station, so dass das Porträt bis auf weiteres im Depot hängt. Die haus­interne Debatte jedoch geht weiter, jüngst belebt durch die Tagung des AsKI.

Dr. Konrad Heumann | Leiter
Handschriftenabteilung, Freies Deutsches
Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum

 

AsKI kultur leben 2/2022

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