Eins und doppelt: das Goethe-Museum Düsseldorf/Anton und Katharina Kippenberg-Stiftung

Goethe Museum Düsseldorf im Schloss Jägerhof – Gartenseite, Foto: Franz Fechner, Bonn

Im Herbst 2015 jährt sich die Entstehung eines der berühmtesten Gedichte Goethes zum 200. Mal, und zugleich feiert das Goethe-Museum Düsseldorf den 30. Jahrestag von dessen Erwerbung. Das Gedicht weist auf die Bedeutung dieses kulturgeschichtlich wichtigen Ortes und mag das Zukunftskonzept für das Haus andeuten.

Von allen Werken Goethes wurde Ginkgo biloba, das als Titel den botanischen Namen eines Baumes trägt, am vielfältigsten vermarktet. Die Goethe-Verse zieren Tassen und Servietten; die herzförmigen Blätter des urtümlichen Ginkgobaumes gibt es als Naschwerk aus Marzipan und aus Gold als Schmuck für die Damen. Allein im Düsseldorfer Goethe-Museum aber wird die Original-Handschrift des Gedichtes verwahrt.Das wertvolle Blatt, das 2013 sogar im Pariser Louvre zu sehen war, wird zum Jubiläum für kurze Zeit in der Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf präsentiert. Es ist eines der schönsten erhaltenen Schmuckblätter Goethes überhaupt. Der Dichter hat die drei Strophen ins Reine geschrieben und darunter sorgfältig zwei Ginkgoblätter mit einem zur Schleife gelegten, rosafarbenen Papierstreifen befestigt. Solch behutsamen Umgang mit Pflanzen kennen wir aus Goethes Herbarien. Zugleich ist das kunstvolle Schmuckblatt Ausdruck biedermeierlichen Dekorationswillens und selbstbewusste Präsentation eines Kunstwerks.Johann Wolfgang von Goethe, Eigenhändige Reinschrift des Gedichts ‘Ginkgo biloba‘ aus dem ‘West-östlichen Divan‘ mit zwei von ihm eigenhändig aufgeklebten Ginkgo-Blättern, 1815, Goethe-Museum Düsseldorf

Ginkgo biloba ist offenbar – weswegen denn sonst die aufgeklebten Blätter? – ein Naturgedicht, das über das fächerförmige, in der Mitte eingekerbte Ginkgoblatt sinniert: Ist es ein Wesen, das sich in zwei Teile getrennt hat, oder sind es zwei Wesen, die ein Ganzes aus sich bilden? So einfach ist es aber nicht. Das handschriftliche Datum weist auf ein Gefühl hin, das Goethe begeistert und verstört hat: die Liebe zu der 35 Jahre jüngeren, verheirateten Marianne von Willemer, der er in Frankfurt begegnete. Die ehemalige Schauspielerin wurde durch den verehrten Dichter selbst zu kongenialen Gedichten inspiriert, die Goethe anonym in seinen großen Alterszyklus West-östlicher Divan einreihte. Die Zeit hatte ein anderes Verständnis von poetischem Eigentum, als wir es heute pflegen. Am 15. September 1815 sandte das Genie der jungen Frau ein Ginkgoblatt und legte einige Verse bei. Die Düsseldorfer Handschrift ist wohl diejenige, die er einige Jahre später an seinen Freund und Dienstherrn, den Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, geschickt hat, mitsamt einiger Materialien zur Naturkunde.

Der Herzog ging auf Goethes Hinweise zum Ginkgobaum, den man kultivieren könne, nicht ein; er ließ sich stattdessen begeistert über ein anderes Gewächs, die Bignonia radicans aus der Gattung der Trompetenbäume, aus. Vielleicht hatte er Goethes Hinweis, dass bei den älteren Ginkgobäumen der Einschnitt in den Blättern viel ausgeprägter sei als bei jüngeren Exemplaren, auf das eigene Verhältnis zum früheren Busenfreund ausgelegt.

War die Gedichthandschrift ursprünglich als Geschenk für die Geliebte gedacht und wurde nach Bewältigung der Leidenschaft naturkundlich weiterverwertet? Zur Lebenskunst Goethes gehörte das Abschneiden von persönlichen Beziehungen. Dem übriggebliebenen Gedicht nimmt diese Praxis aber nichts von dem Zauber, den es der Zuneigung eines Paares verleiht: In der Liebe wachsen zwei Individuen zusammen und bieten der Welt Paroli. Vielleicht hat Goethe dabei an den alten platonischen Mythos gedacht, nach dem wir alle früher Kugelwesen waren, die nach ihrer Trennung in zwei Hälften verzweifelt über die Erde schweifen und nach dem verlorenen Pendant suchen.

In den drei Strophen zu je vier Zeilen bringt der Dichter das Kunststück fertig, über Liebe, Natur, Poesie und Kultur zugleich zu sprechen. Eins und doppelt sind nicht nur die Natur und das liebende Paar, eins und doppelt ist auch das Ich, das sich in seinen Liedern selbst betrachtet. Und das entstandene Kunstwerk ist ebenfalls verdoppelt, weil Goethe in seiner Gedichtsammlung auf ein Werk aus dem Osten, den Divan des persischen Dichters Hafis, zurückgreift. So können die Verse Verständigungsmittel von Liebenden, Pflanzenkundlern, Literaten, eingeweihten Goethe-Kennern und interkulturell vermittelndenen Politikern sein.

Anders als die frischen Sturm-und-Drang-Poeme des jungen Goethe – „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!" –, die Jugendliche heute im Goethe-Museum schwungvoll zu Rap-Rhythmen vortragen, spricht das Ginkgo-Gedicht in Rätseln. Es gibt mindestens vierfachen „Sinn zu kosten", serviert dem Leser keine buchhalterische Bilanz, sondern fragt ihn zurück. Die poetische Vieldeutigkeit des Gedichtes ist sein Reichtum, der dem geneigten Leser einen Glücksmoment bescheren kann, wenn er erfährt, wie beim gleichzeitigen Feuern der Synapsen des Hirns die verschiedenen Sinnebenen zusammenschießen.

Die Wirkungsgeschichte des Gedichtes in Literatur, Kunst und Wissenschaft ist immens, auf allen Ebenen. Es diente gleichermaßen als Anschauungsobjekt für den Entdecker des Biorhythmus und zeitweiligen Freud-Freund Wilhelm Fließ wie als Stichwortgeber für Johannes Mario Simmels Trivialroman „Und Jimmy ging zum Regenbogen". Das vielfältig auszulegende Gedicht mag all das andeuten, worauf die in Vorbereitung befindliche neue Dauerausstellung des Museums zu Goethe im 21. Jahrhundert hinzielt.

Da ist einmal die Auseinandersetzung mit der verflixten eigenen Individualität: „Es weiß sich kein Mensch weder in sich selbst noch in andere zu finden und muß sich eben sein Spinnengewebe selbst machen", schreibt Goethe 1799 an Schiller. Bei der Entdeckung des Individuums im 18. Jahrhundert war Goethe einer der Hauptprotagonisten; der homo sapiens, der sich gelegentlich in der Kunstproduktion verdoppelt, knipst auch heute noch seiner selbst ungewiss Selfies und taumelt mit Zauberkästchen am Ohr und vor dem Auge durch die Straßen der Großstadt wie durch Museen, dabei über den virtuellen attachments seine leibhaftigen Mitmenschen anrempelnd.

Das Düsseldorfer Schmuckblatt aber dokumentiert im selben Atemzug nicht nur die Einsicht in die Vielfalt des Ichs, sondern auch das Interesse des Dichters an allen Weltbereichen, vor allem an der Gesetzlichkeit der Natur in Polarität und Steigerung. Diese heute kaum mehr zu erreichende Universalität geht einher mit einer interkulturellen Öffnung, die das Ja zu Europa und das Weltbürgertum feiert.

Man mag den üppigen Ginkgokult belächeln: Aber es ist gut nachzuvollziehen, weshalb diese urtümliche Pflanze aus Dinosaurierzeiten so fasziniert. Als „Goethe-Baum" volkstümlich bekannt, ist es bestimmt kein Zufall, dass aus ihm ein durchblutungsförderndes Medikament gewonnen wird. Wer auf Pillen verzichten will, lese einfach das Gedicht. Es wirkt intelligenzsteigernd und macht glücklich.

Goethe nicht nur in Düsseldorf neu an das Publikum zu bringen, ist das erklärte Ziel der Anton und Katharina Kippenberg-Stiftung, die das Goethe-Museum gemeinsam mit der Stadt trägt. Stiftung und Museum sind eins und doppelt: Goethe-Museum Düsseldorf ist eine Kurzbezeichnung für die Goethe-Museum, Anton und Katharina Kippenberg-Stiftung. Die Goethe-Museum Düsseldorf, Anton und Katharina Kippenberg-Stiftung ist 1953 von zwei Erbinnen von Professor Anton Kippenberg, dem früheren Verleger des Insel-Verlags, gegründet worden. Satzungsgemäße Voraussetzung und Grundlage der Stiftung ist ein Vertrag der Stiftung und der beiden Erbinnen mit der Stadt Düsseldorf vom 13. Februar 1953. Das Museum wurde am 30. Juni 1956 eröffnet.

Das Goethe-Museum Düsseldorf im ‘Schloss Jägerhof, Foto: Goethe-Museum Düsseldorf

Eine aktuelle Meinungsumfrage vom August 2015 macht Mut zur Goethe-Werbung (YouGov; vgl. FAZ, 10.08.15 und „Rheinische Post", 10.08.15: „So ticken die Deutschen"): Sie führt Goethe an Platz 2 typisch deutscher Berühmtheiten auf, hinter Volkswagen und vor der Kanzlerin und der Fußballnationalmannschaft. Aufgabe und Ziel des Goethe-Museums Düsseldorf ist es, Goethes Werk als Spitzenleistung deutscher Kultur historisch zu erforschen und seine Rezeption bis in die Welt- und Gegenwartsliteratur zu dokumentieren. Museum und Archiv verstehen sich als modernes Wissenschafts- und Kommunikationszentrum, worin die Aufgaben des Sammelns, Erforschens und Vermittelns mit Blick auf die Gegenwart konzentriert werden. Ziel ist nicht die Verehrung einer Gipsbüste, sondern eine lebendig-kritische Annäherung an ein vielschichtiges Universalgenie.

Das kulturgeschichtliche Museum ist eine der drei großen Goethe-Archiv- und Forschungsstätten und beherbergt die größte, etwa 50.000 Objekte umfassende Goethe-Privatsammlung der Welt. Die Dauerausstellung Goethe und seine Zeit zeigt Originalhandschriften, Bücher, Gemälde, Graphiken, Büsten und Kunsthandwerk in einem aus dem 18. Jahrhundert stammenden, architektonisch hervorragenden Gebäude: dem im Auftrag des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz nach Plänen von Johann Joseph Couven und Nicolas de Pigage erbauten Schloss Jägerhof. Zur Institution gehören das Museum, das Handschriftenarchiv, die Forschungsbibliothek, die Kunstsammlung und ein Veranstaltungszentrum.

Was gegenüber dem Geburtsort Frankfurt und dem Wohn- und Sterbeort Weimar als Standortnachteil wirken könnte, kann am Rhein gerade als Vorteil für die Positionierung auf dem „Klassik-Markt" umgemünzt werden. Gerade hier in der modernen Großstadt Düsseldorf lässt sich unbelastet von lokalhistorischen Rücksichtnahmen besonders repräsentativ für die ganze Welt in einer modernen Dauerausstellung Goethes Bedeutung für das 21. Jahrhundert darstellen.

Die Ausstellung im Schloss Jägerhof war bis vor zwei Jahren eine traditionelle Tischvitrinenausstellung. Sie setzte vor allem auf die Aura zahlreicher Originalhandschriften. Die heutigen Wahrnehmungsgewohnheiten machen eine Neuausrichtung der vor fast 30 Jahren eingerichteten Präsentation notwendig. Die wünschenswerte große Lösung war wegen der noch anstehenden baulichen Sanierung des Hauses noch nicht möglich; die Neukonzeption hat deswegen in den letzten zwei Jahren „evolutionär" begonnen durch eine Öffnung und Dynamisierung der Räume (Entfernung von Trennwänden und sperrigen Kabinetten; Neuanstrich) und die Einrichtung eines medientechnisch neuartigen Werther-Raums durch Absolventinnen der Fachhochschule für Design Düsseldorf. Die zukünftige Dauerausstellung soll auf ein größeres Publikum zugeschnitten werden, das wenige Vorkenntnisse hat. Sie ersetzt die chronologische Ordnung der Exponate durch Themenräume zu drei Leitkategorien, die Goethes Leistung aus heutiger Sicht konzentrieren: Individualität, Universalität (Kunst, Literatur, Naturwissenschaft, Verwaltung) und Interkulturalität (Europäer und Weltbürger).

Die Handschrift des Ginkgo-Gedichts hat 1985 der frühere Direktor des Goethe-Museums Jörn Göres von einem Privatsammler erworben. Die Stadt Düsseldorf, die Anton und Katharina Kippenberg-Stiftung, das Land NRW und der Freundeskreis des Museums machten den Kauf möglich: ein Zeugnis gemeinschaftlicher Kulturpflege, wie man sie sich heute nur wünschen kann.

Prof. Dr. Christof Wingertszahn
Direktor des Goethe-Museums Düsseldorf

 

AsKI KULTUR lebendig 2/2015

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