EDITORIAL: Landesbühne

Einem Dutzend Gefängnisinsassen gelingt mit dem Bus einer Theatertruppe, die an verschiedenen Spielorten Gastspiele gibt, die Flucht, angeführt von dem Kleinkriminellen Hannes, der auch seinen Zellengenossen, den Germanistik-Professor Clemens, mitnimmt. In einem fiktiven, idyllisch-spießbürgerlich gezeichneten Ort Grünau werden sie für die Theatergruppe selbst gehalten, in das Kulturleben integriert, das sie mit Unterstützung des Bürgermeisters aktiv und mit großer Resonanz umgestalten. Der Ortsname selbst evoziert den Psalm Davids 23: „DER HERR ist mein Hirte / Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auff einer grünen Awen / Vnd füret mich zum frisschen Wasser" (Luther 1545) und greift zudem auf Eichendorffs Wem Gott will rechte Gunst erweisen zurück. Hannes wird der Direktor eines Heimatmuseums, in dem er ein Sammelsurium an Alltagszeugnissen zusammenträgt und im pseudo-urzeitlichem Kostüm mit großem Erfolg witzig erläutert.

Die Fallhöhe wird deutlich, wenn man an den Roman Heimatmuseum (1978) erinnert, in dem wunderbare masurische Binnenerzählungen in den Handlungsrahmen eines Siegmund Rogalla gesteckt werden, der sein Heimatmuseum trotz authentischer Objekte anzündet, um einen revanchistischen Gebrauch zu verhindern, wohl wissend: „Verkriemelt sich das Original, verkriemelt sich auch das Jewesene". Zum politisch gewollten Profil trägt auch Professor Clemens bei, der eine Vortragsreihe, hochstaplerisch als Volkshochschule deklariert, präsentiert, in der er vom Sturm und Drang spricht, „einem Versuch, die Menschen zu befreien". Eine Journalistin, deren Vorname Isolde Assoziationen hoher Liebe wachruft, berichtet positiv darüber, obwohl sie seine wahre Identität erkennt. Sie war es, die ihn angezeigt hatte, weil er sie für so unbegabt hielt, dass er sie nicht, wie andere Kommilitoninnen, nötigte, vor dem Examen bei ihm zu nächtigen. Nach der Rückführung der Ausbrecher wird sie Clemens zusammen mit diesen Studentinnen, den Opfern also, besuchen und partyhaft einen Fan-Club gründen. Mit diesem Unernst kontrastiert der verzweifelte Selbstmord eines anderen Ausbrechers, die Aufführung von Becketts Warten auf Godot und die Entwicklung von Hannes, der sich die Welt des Geistes erschließen will.

Die Feuilleton-Kritik hat es sich mit diesem Zeitbild leicht gemacht, das „Meisterwerk" Schweigeminute dagegen ausgespielt und sogar von einem Absturz gesprochen. Die Leser sind ihr darin in der vergeblichen Suche nach Identifikationsfiguren gefolgt. Doch muss man es nicht doch ernster nehmen? Für Lenz selbst kann „Erzählen wie ein Trost" sein - für uns Akteure hält Landesbühne ein mit mancherlei authentischen Zügen ausgestattetes Spiegelbild vor, das uns auffordert, nicht im Kulturbetrieb zu versinken.

Volkmar Hansen
Vorsitzender des AsKI

Titelbild KULTUR lebendig 2/11 : Kunsthalle Bremen, Innenansicht Ausstellungsraum, Foto: Stefan Müller, Berlin

AsKI KULTUR lebendig 2/2011

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