EDITORIAL: Europa

Unter den ökonomischen und politischen Zwängen, unter denen die Länder der Europäischen Union heute stehen, mag es hilfreich sein, sich nicht nur an die Zeiten der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert zu erinnern, die reaktiv ein neues Bewusstsein der europäischen Zusammengehörigkeit geschaffen und zum Handeln gezwungen haben, sondern auch auf den Mann zu schauen, von dem Thomas Mann 1932 in einem Gruß An die japanische Jugend sagen konnte, er sei das „geistige Haupt Europas“ und damit „höchster Repräsentant europäischer Kultur, Gesittung und Menschlichkeit“ – Goethe, von dem in diesem Heft mehrfach die Rede ist.

Der Mythos der phönizischen Königstochter Europa, die der in einen Stier verwandelte Zeus nach Kreta entführt, erneuert sich durch die neuzeitliche Globalisierung, wird im Zeitalter der Renaissance und des Barock zu einem Lieblingssujet der Bildenden Kunst, von dem sich drei Dutzend bedeutende Zeugnisse von Vasari bis Tiepolo in den großen Museen und in Privatbesitz erhalten haben. Goethe begegnete der antiken Götterliebschaft in Benjamin Hederichs Gründlichem Le

xicon Mythologicum und orientiert sich 1793/94 in dem Entwurf der Geschichte der Europäischen Staaten von Ludwig Timotheus von Spittler, verfolgt auch noch die späteren Aktualisierungen in den von Georg Sartorius betreuten Auflagen. Systematisch erarbeitet er sich ein Bild der verschiedenen Nationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vertieft lesend die nur partiell durch unmittelbare Reisebegegnun- gen erschlossenen Eindrücke von England, Frankreich, Italien, der Schweiz oder den Niederlanden, erweitert sie durch Erarbeitung länderkundlicher Topographien als Kulturzusammenhang.

Das „Wir“-Gefühl reicht bei Goethe vom lokalen und regionalen, im Dialekt fassbaren Kernbereich bis in die Dimension des Menschheitlichen hinein, doch erfährt das Europäische eine besondere emotionale Färbung. Grenzüberschreitend im West-östlichen Divan oder dem Den Vereinigten Staaten gewidmeten Gedicht, in dem er „unsern Kontinent“, den „alten“, von Amerika abgrenzt. Gesellschaftliche Verkrustung unter „uns alten Europäern“ spricht er auch gegenüber Eckermann am 12. März 1828 an. Gegenüber Riemer zuvor, am 14. Mai 1808, als vielgestaltige Einheit: „Europa (…) war sonst eine der seltensten Republiken, die jemals existiert, und ging daran zugrunde, daß ein Teil das eine wollte, was das Ganze war, nämlich Frankreich wollte Republik werden“.

Ein Schema zu der Zeitschrift Propyläen hält in Stichworten fest, wie er sich die Basis eines dynamischen Europa vorstellt: "Der höchste Begriff vom Menschen kann nur durch Vielseitigkeit, Liberalität erlangt werden. - Dessen war zu seiner Zeit der Grieche fähig. - Der Europäer ist es noch. - Unterschied der Nationen". Kulturelles Identitätsverständnis jenseits aller Mentalitätsunterschiede und vorsichtiges Fortschrittsdenken Goethes – kann dies nicht auch für uns Heutige vorbildlich sein?

Volkmar Hansen
Vorsitzender des AsKI

Titelbild KULTUR lebendig 2/12 : Utta Wickert-Sili, Rom

AsKI KULTUR lebendig 2/2012

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