EDITORIAL: Das deutsche Jahrhundert?

Museen sind, wenn sie lebendig sind, Orte der Begegnungen - an erster Stelle für unsere normalen Besucher: seien es die Touristen aus aller Welt, die uns vor Kommunikations-, sprich: Sprachprobleme, stellen, seien es die Stammgäste des Hauses, die eine heterogene soziale Schichtung verkörpern.

Ist der thematische Auftrag vielseitig, so wird sich auch in den Gästen ein breites Spektrum verkörpern. Ein Vortrag zu den naturwissenschaftlichen Fächern eines Universalgelehrten wie Goethe zaubert dann tatsächlich zehn Professoren aus dieser Fakultät unter die Hörer. Sie alle bringen persönliche Begegnungen und in der Folge oft Bindungen mit sich, die oft in Schenkungsangebote, die bis zu wertvollen Manuskripten gehen, einmünden.

Eine andere Stufe der Begegnungen erreicht uns mit den lesenden, spielenden, ausstellenden Künstlern und mit den Wissenschaftlern, die wir selber einladen: Da spannt sich ein farbiger Bogen von schwierigen bis freundschaftlichen, aber stets anregenden Kontakten. Doch gibt es eine letzte Stufe, die ich pathetisch mit einem von Rilke auf die Kunst bezogenen Gedicht umschreiben möchte:

Torso Miletus, Louvre, Department of Greek, Etruscan and Roman Antiquities, Denon wing (Ma 2792), Foto: Jastrow (2006), Quelle: wikimedia.org

Archaischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.

So ist es mir mit einer Äußerung von Stéphane Hessel gegangen, Sohn des Benjamin-Freunds Franz Hessel. Stéphane Hessel schloss sich der Résistance an, überlebte drei Konzentrationslager und hat als französischer Diplomat am Entwurf der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen mitgearbeitet. Gekommen, um aus dem Schatz deutscher, französischer, englischer Gedichte vorzutragen, die ihn ein Leben lang begleitet haben, meinte er, trotz der beiläufigen Gesprächssituation, einen besonderen Akzent darauf legend: „Das 20. Jahrhundert ist das deutsche Jahrhundert".

Er konnte wohl in meinem Gesicht lesen, dass ich zweifelnd dieser Bewertung gegenüberstand - sprechen wir nicht mit Hobsbawm vom langen 19. Jahrhundert, der Zeit von der Französischen Revolution von 1789 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, denken wir nicht an die zwölf Jahre des Nationalsozialismus mit dem Griff zur Weltmacht und der Shoah, an die Bipolarität des Kalten Kriegs, an die Supermacht U.S.A., an die demographische Explosion? Als Antwort auf meinen Blick skizzierte er mir das Jahrhundert mit der Dynamik des Kaiserreichs, mit der intellektuellen Dominanz der Weimarer Republik, mit Hitler, mit der Situation von Berlin, mit der friedlichen deutschen Revolution, mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Osteuropa. Mit Verblüffung habe ich auf diese ungewöhnliche Perspektive eines klugen, kundigen Kopfs, eines Geschichts- und Weltkenners, auf unsere Nation reagiert. Unterschätzen wir die eigene Bedeutung, die eigene Kraft? Ein Stück Selbstvertrauen ließe sich von solch einem Impuls ableiten, die Gelassenheit für die Integrationsaufgabe schenken kann.

Volkmar Hansen
Vorsitzender des AsKI

Titelbild KULTUR lebendig 2/10: Kofferaufkleber Schweizerhof, Zürich, um 1925, Foto: M. Runge/Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

 

AsKI KULTUR lebendig 2/2010

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