Deutsches Literaturarchiv Marbach: Ich schreibe anders als ich rede. Kafkas Briefe an seine Schwester Ottla

Logo marbach

Franz Kafka mit seiner Schwester Ottla vor dem Oppelt-Haus in Prag, um 1914, Foto: DLA MarbachFranz Kafka – ein Familienmensch? Niemals! Die Vorstellung, eine eigene Familie zu gründen, erfüllte ihn mit Schrecken, bereits eine Verlobung empfand er als unerträgliche Belastung.

Wo er Familienverhältnisse in Erzählungen schildert – man denke an Das Urteil, Die Verwandlung, den Brief an den Vater –, erscheinen sie als albtraumhaftes Verhängnis. Erstaunlich, dass Kafka trotz allem eine Familie für das „Höchste“ hielt, „was man erreichen kann“. Und da er noch mit dreißig bei seinen Eltern wohnte, kann es so entsetzlich dort nicht zugegangen sein. Wer in diesem Punkt Dichtung und Wahrheit auseinanderhalten will, ist auf Dokumente angewiesen. Die vielleicht wichtigsten sind seit kurzem im Deutschen Literaturarchiv Marbach zu finden.

Kern der Sammlung von Briefen, die Marbach im Frühjahr gemeinsam mit der Oxforder Bodleian Library erwerben konnte, sind 111 Schreiben von Franz Kafka an seine Schwester Ottla von 1909 bis in sein Todesjahr 1924. Mit niemandem aus seiner Familie hat er so ausführlich korrespondiert wie seiner neun Jahre jüngeren Lieblingsschwester. Solange sie in der elterlichen Wohnung wohnten, beschränken sich seine Schreiben auf Postkarten von Dienstreisen für die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt aus Maffersdorf, Pilsen oder Friedland oder von Urlaubsreisen aus Riva, Paris und Weimar. Nachdem er im Juli 1914 in Prag seine erste eigene Wohnung bezogen hatte, beginnt ein ausführlicher Briefverkehr.

Gleich zu Beginn warnt Kafka vor Veränderungen, die sich aus dem neuen Verständigungsmittel ergeben könnten: „Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.“ Was er Briefen nicht anvertrauen will, verschiebt er auf das „Badezimmer“ in der elterlichen Wohnung, wo sich die beiden seit ihrer Kindheit zu zwanglosen Gesprächen trafen. Gelegentlich spürt man auch im Schriftlichen ein traumhaftes Vertrautsein, so auf einer Postkarte aus dem Jahr 1919: „Liebe Ottla heute in der Nacht zwischen dem 31.I und 1.II wachte ich etwa um 5 Uhr auf und hörte Dich vor der Zimmertür »Franz« rufen, zart, aber ich hörte es deutlich. Ich antwortete gleich aber es rührte sich nichts mehr. Was wolltest Du? Dein Franz“. Einmal, er hatte bis nachts um halb drei geschrieben und das „Petroleum bis zum letzten Tropfen verbraucht“, bittet er sie morgens postalisch, einen Entschuldigungsbrief an seinen Vorgesetzten zu überbringen.

Als Ottla im Frühjahr 1917 in das westböhmische Dorf Zürau übersiedelt, um dort ein kleines Gut zu bewirtschaften, spart ihr großer Bruder nicht mit Ratschlägen: „Muß es übrigens ein Pferd sein? Kühe oder Ochsen genügen nicht?“ Wenig später, im August 1917, berichtet er in einem langen Brief von seinem ersten Blutsturz, den er als Befreiung aus seinem Verlobungsdrama mit Felice Bauer interpretiert. Fast immer ist er selbstironisch und zu Scherzen aufgelegt. Politische Ereignisse werden nur indirekt berührt; auf den elterlichen Vorwurf, er habe den „abnormalen“ – nämlich für damalige Verhältnisse allzu selbständigen – Weg der Schwester unterstützt, erklärt er: das „Abnormale sei nicht das schlechteste, denn normal sei z.B. der Weltkrieg“. Während seiner sechs Krankheitsjahre schildert er die Einzelheiten der räumlichen und kulinarischen Verhältnisse in den verschiedenen Pensionen und Sanatorien und porträtiert auf witzige Weise seine Mitpatienten, immer auch mit der Absicht, den Ernst seiner Lage zu überspielen.

Neben den Briefen von Kafka an seine Schwester sind in dem neu erworbenen Konvolut weitere, bisher unbekannte Briefe an Ottla Kafka enthalten: 23 stammen von der Familie, meist von der Mutter, drei von Kafkas letzter Verlobten Dora Diamant und neun von Robert Klopstock, dem Medizinstudenten, der über Kafkas letzte Monate berichtet. Diese Briefe sind zwar keine sprachlichen Kunstwerke, erlauben aber wichtige Einsichten. Der Vater beispielsweise erscheint kaum als übermächtiger Tyrann, seine Launen werden von den Frauen der Familie eher liebevoll kommentiert. So schreibt Kafkas Schwester Elly über den 65-Jährigen: „Er hat sich ganz ausgezankt, er zankt nie mehr. Er ist sehr brav, zu brav.“

Ottla Kafka wurde 1944 – wie ihre beiden Schwestern – in Konzentrationslagern ermordet. Dass ihre Enkel die Briefe zu gleichen Teilen an die Bodleian Library und an das Deutsche Literaturarchiv übergaben, hat symbolische Bedeutung. Kein Land kann Kafkas Werke für sich allein reklamieren, sie gehören zur Weltliteratur. In Oxford befindet sich heute der größte Teil seiner Werkmanuskripte, die zweitgrößte Kafka-Sammlung in Marbach enthält neben wichtigen Manuskripten (Der Proceß, Brief an den Vater) zahlreiche Briefe, unter anderen an Hedwig Weiler und Milena Jesenská. Noch während die Ottla-Briefe in einer Sonderausstellung im Literaturmuseum der Moderne zu sehen waren, erklärte die Stuttgarter Wiedeking Stiftung, sie werde dem Literaturarchiv demnächst als Depositum Kafkas Briefe an Grete Bloch überlassen.

Ulrich von Bülow

 

AsKI KULTUR lebendig 2/2011

.

xxnoxx_zaehler