Deutsches Literaturarchiv Marbach: ‘Das bewegte Buch‘ im Literaturmuseum der Moderne

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„Papier ist das Schwerste, was man im Koffer oder Rucksack bei sich haben kann. Man überlässt es nicht dem Zufall oder einer Laune, welche Bücher man einpackt."

"Doch: Wer sich auf Reisen begibt und seine Lektüre-Erfahrungen dabei von Batterien und Bildschirmen abhängig macht, verlässt nie die Steckdosenzone. Nur mit richtigen Büchern aus Papier gelangt man bis ans Ende der Welt", so Christian Kracht und Eckhart Nickel über ihre in zwei Jahren in Nepal zusammengetragene „Kathmandu Library", die nun in der großen Marbacher Ausstellung „Das bewegte Buch" zu sehen ist.

Neben den einmaligen Buchbeständen des Deutschen Literaturarchivs wie den Autorenbibliotheken u. a. von Paul Celan, Martin Heidegger und W. G. Sebald, der Bibliothek eines Lazaretts von 1914 und eines zeitgenössischen Gefängnisses (JVA Münster) sowie einer in drei Monaten gesammelten Fundbibliothek der Deutschen Bahn.

Aus der Bibliothek von Gottfried Benn: ‘Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung‘, hrsg. von Kurt Pinthus (Berlin: Rowohlt, 1920), mit Widmung an Benns erste Ehefrau Edith, Foto: DLA MarbachIm Mittelpunkt stehen gelesene Bücher, die das Buch als Medium einer ganz besonderen Raumerfahrung vorstellen. Hölderlin hat für seine Diotima die beiden Bände des „Hyperion" zusammenbinden lassen, um in der so entstandenen Nische seine Liebeswidmung zu verbergen – „Wem sonst als Dir". Peter Handke wanderte mit seinem „Don Quijote" durch Spanien und hat die Wege und Tage der Lektüre im Buch verzeichnet. Peter Rühmkorf brachte mit seinen Gedichtfunden eine Lyrikanthologie zum Platzen. Bücher bergen für uns reale Räume – auf einer Seite, in einer Seite, mit einer Seite und zwischen den Seiten. Sie sind tatsächlich eine hohle Form und zugleich der Inbegriff des Vollen und Ganzen. Sie sind Schwelle, Nische, Rand, Falte, Höhle, Kiste, Tresor, Koffer und Handtasche, Tür, Fenster, Gang und Haus, Bühne und Museum, Garten und Welt, Wolke und Loch. Wir füllen, leeren, verschlingen und verlieren, klauen und verstoßen, lieben und hassen sie. Sie sind Gegenstände, können Mobiliar sein und Tapete, Fremde, Begleiter, Mitbewohner, Geliebte. Sie beflügeln und machen sesshaft, sind (schwere) Kinder des Baumes und (leichte) Geschwister der Luft.

Ernest Hemingway, ‘Fiesta‘, rororo Taschenbuchausgabe (1950), Foto: DLA MarbachDas Buch als eine solche paradoxe Form – bewegbar und stabil, dynamisch und konstant, in sich vielseitig und von außen abgeschlossen, recyclebar und ewig, begreifbarer Stellvertreter selbst flüchtigster Imaginationen und dunkelster Ideen – wird in drei großen Kapiteln am Beispiel von über 100 Exponaten erkundet. „Höhle und Falte" eröffnet die konkreten Räume in einem Buch. Vom weißen Raum, den Christoph Ransmayr mit seinen Moleskine-Heften mit auf Reisen nimmt, bis zum Brief, den ein kleines Mädchen an Michael Ende schickte: „Schade, Dein Buch ist bald leer." „Blatt und Untergrund" zeigt, wie lose die Verbindung von Buch und Blatt, Autor und Text, Werk und Form, Druckerei und Verlag ist, auch wenn sie seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend eine Rechtseinheit wurde, deren Auflösung als Verstoß gegen das Urheberrecht geahndet wird. Dass jeder anders liest, ist das Thema in „Löcher und Schneisen". Am Beispiel von fünf Autorenbibliotheken wird Nietzsches Vorstellung, Lesen sei „langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen", überprüft. Autoren suchen im Buch Stellen auf, die sie zum Luftholen und Sprechen (Celan) bringen, zum Bauen und Dichten (Benn), zum Sehen und Denken (Heidegger), zum Zaubern und Entzaubern (Rühmkorf) oder zum Erinnern und Erzählen (Sebald).

Das bewegte Buch

Deutsches Literaturarchiv Marbach / Literaturmuseum der Moderne

Ausstellung, bis 9. Oktober 2016

Katalog (Marbacher Magazin 150/151/152):

„Das bewegte Buch. Ein Katalog der gelesenen Bücher". 188 Seiten, 104 farb. Abb.

Broschiert. ISBN 978-3-944469-13-3, 20,– €.

Auch online erhältlich: http://www.dla-marbach.de/shop

AsKI KULTUR lebendig 1/2016

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