Akademie der Künste, Berlin: On my Way – Geschichten aus Europa

On my Way, Ausstellungsmodell, Mosaik und Raster nach einer Idee von Kindern aus Bitterfeld-Wolfen, Foto: © KUNSTWELTEN

Das Thema des Reisens inmitten der Corona-Pandemie ins Zentrum eines Programms von Kindern, Künstlerinnen und Künstlern zu stellen, mag verwundern.

 Schon Monate vor dem Auftreten des Virus haben Kinder europäischer und deutscher Städte gemeinsam mit Mitgliedern und Stipendiaten der Akademie von ihren Reiseerfahrungen in Europa in Texten, Bildern, Filmen, Musik- und Theaterstücken erzählt und im Akademie-Archiv Dokumente sowohl erwünschter als auch erzwungener Reisen kennen gelernt. Der Corona-Lockdown hat die Reisetätigkeit wochenlang lahmgelegt, inzwischen mehren sich die Zeichen, dass ihre Wiederaufnahme nicht von vernünftigem Verzicht bestimmt sein wird. Umso wichtiger sind neue Ideen für künftige Reisen. Was geht, ohne die Umwelt noch mehr in Mitleidenschaft zu ziehen? In verschiedenen Aktionen haben sich Kinder und Jugendliche zusammen mit Künstlern der Akademie mit vielfältigen Aspekten des Reisens auseinandergesetzt. Das Programm, mit dem die Akademie das kulturelle Miteinander in einem aufgeklärten, solidarischen und offenen Europa stärken möchte, wurde vom AsKI e. V. im Rahmen des Förderschwerpunkts „Kultur stärkt Demokratie!" unterstützt. Die Ergebnisse werden ab November in der Ausstellung „On my way – Geschichten aus Europa" im Metall-Labor des Chemieparks Bitterfeld-Wolfen gezeigt. Sie führt von Bitterfeld in die Welt und lädt junge Menschen zum grenzübergreifenden Austausch in Europa ein.

On my Way, Ausstellungsmodell, Mosaik und Raster nach einer Idee von Kindern aus Bitterfeld-Wolfen, Foto: © KUNSTWELTEN

Da gibt es Bahnreisen nach Spanien und Italien, ebenso in die nahe Umgebung, sogar durch das eigene Zimmer. Annesley Black unternimmt mit Kindern aus Bitterfeld eine musikalische Exkursion in Booten auf einem See nahe ihrer Schule. Nach Anna Seghers' 1938 im Pariser Exil entstandenem Hörspiel „Ein ganz langweiliges Zimmer" entwickeln Kinder mit Elena Zieser und Gesine Bey ein Hörspiel, das von den Dingen handelt, die möglicherweise von woanders herkamen, während sie im Lockdown in ihren Zimmern bleiben mussten.

Ein Koffer für Walter Benjamin – Bewerbung um eine Reise nach Portbou, Foto: © KUNSTWELTEN

Erst im Frühjahr 2021 wird eine Reise stattfinden können, die Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel und Professor Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs an der Akademie der Künste Berlin, mit Berliner Gymnasiastinnen nach Portbou führen wird, um dort Walter Benjamins Wegen während der letzten Tage vor seinem tragischen Tod zu folgen. Dazu habe ich mit Ihnen ein Gespräch geführt.

| Vor 80 Jahren nahm sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Portbou an der französisch-spanischen Grenze das Leben. Warum möchtest Du mit Jugendlichen dorthin fahren?

Jeanine Meerapfel: Über die konkrete Erfahrung einer Reise, einer tatsächlichen Annäherung, kann die Erfahrung des Exils nachempfunden werden. Mit jedem Schritt, jedem Weg und jeder Fahrt auf Benjamins Spuren werden sich die Jugendlichen dem Leben und Denken von Benjamin nähern. Gleichzeitig filmen, foto­grafieren und schreiben sie, um sich künstlerisch und ganz subjektiv mit den Themen der Flucht auseinanderzusetzen.

| Die Reise musste wegen der Pandemie auf das Frühjahr 2021 verschoben werden. Wie soll sie verlaufen?

Jeanine Meerapfel: Wir reisen mit dem Zug von Berlin bis Portbou und zurück, das dauert jeweils einen Tag und eine Nacht. Benjamin konnte mit dem letzten Zug von Paris nach Südfrankreich entkommen, als die Deutschen Paris besetzten. Eine Strecke des Weges teilen wir mit ihm. Während der vier Tage in Portbou gehen wir an Orte, die er im September 1940 aufsuchte, und laufen auf den Wegen durch die Pyrenäen, die er nach Berichten von Lisa Fittko bis Portbou lief. Auch der Friedhof und das Denkmal „Passagen" von Dani Karavan gehören zu unserem Programm, das die Schülerinnen in einem Reisefilm dokumentieren.

| Wir haben das Projekt an Berliner Schulen ausgeschrieben. Unsere Entscheidung fiel auf eine Arbeit von Schülerinnen der 11. Klassen des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums. Sie gestalteten Benjamins verschwundene Tasche nach. Was hat Dich daran überzeugt?

Erdmut Wizisla: Die Schülerinnen – es sind tatsächlich nur junge Frauen – legten die Aktentasche in einen Koffer, der so aussah, als hätte Walter Benjamin ihn noch besitzen können. Als wir ihn öffneten, waren wir sprachlos. Wir stießen auf eine Inszenierung. Auf die Innenwand des Koffers hatten die Schülerinnen ihre Porträts geheftet, um sich vorzustellen. Was uns am meisten bewegte, lag in der Aktentasche: eine Ausgabe von Benjamins Adressbuch aus dem Exil, in das sich die jungen Frauen eingeschrieben hatten – mit kleinen Botschaften an den Verfasser des Adressbuchs, mit Bemerkungen zu Orten in Berlin, die ihnen vertraut sind. Es wurde ganz deutlich: Hier wollen junge Menschen etwas von Benjamins Schicksal erfahren. Ihr mit Engagement und Behutsamkeit eröffnetes Buch der Erkundungen hat noch viel freien Raum.

| Vor der Reise nach Portbou finden Begegnungen im Walter Benjamin Archiv statt. Unter anderem lesen die Schülerinnen Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert". Sie erforschen die „unheilvoll-zärtlichen Miniaturen" (Theodor W. Adorno) und begeben sich bereits in Berlin auf Spurensuche. Welche Chancen bieten diese Erkundungen?

Erdmut Wizisla: Wir haben die fantastische Möglichkeit, dem Geschehen im September 1940 genau nachzugehen, den Widersprüchen in den unterschiedlichen Berichten, den vertanen Gelegenheiten, der „Hoffnung im Vergangenen" (Peter Szondi). Da werden wir etwas – im Wortsinne – erfahren. Geschichte bleibt nicht abstrakt, Stoff aus dem Unterricht, sondern wird angeeignet. Es ist eine Aktualisierung in einem Benjaminschen Sinne möglich: dass etwas aus der Vergangenheit „aufblitzt", das uns unmittelbar anspricht, dass gewesene Geschlechter mit uns Fühlung aufnehmen, dass wir gemeint sind. Das gilt für Berlin zur Zeit, in der Benjamin hier lebte (1892 bis 1933), aber auch für Frankreich, wo er in den späten Zwanzigern oft und seit 1933 fast durchgängig war, und es gilt für den Ort, an dem er starb und an dem „niemand ihn kannte", wie er in einem Abschiedsbrief sagte.

| Ein erstes Treffen im Archiv drehte sich um Berichte über Benjamin in Portbou. Unterscheiden sich die Fragen der Gymnasiastinnen von denen älterer Generationen?

Erdmut Wizisla: Ja, sie sind unmittelbarer, offener. Wir spüren das Erkunden, das Staunen, manchmal das Nichtbegreifenwollen. Und wir werden auf beglückende Weise Zeuginnen und Zeugen eines Prozesses, bei dem sich Kenntnisse vermehren und aus Wikipedia-Daten gefühltes, erfahrenes, lebendiges Wissen wird.

| Für Walter Benjamin gab es keinen Durchlass in Portbou. Heute erleben viele Menschen auf der Flucht keinen Durchlass an Europas Grenzen. Welche Schlussfolgerungen können junge Menschen aus dem Schicksal Walter Benjamins und vieler seiner Zeitgenossen ziehen?

Jeanine Meerapfel: Die Erfahrungen von Flucht und Exil sind mannigfaltig und unterschiedlich. Keine Migration gleicht der anderen. Es ist wichtig, nicht zu generalisieren. Selbstverständlich ist die Erfahrung einer solchen Annäherung ein Appell an solidarische Gefühle, an Empathie für diejenigen, die den schweren Weg des Exils gehen müssen. Die historischen Zusammenhänge werden auch bei unserer Reise vermittelt.

 Dr. Marion Neumann | KUNSTWELTEN –
Kulturelle Vermittlung, Akademie der Künste


Dani Karavan, Gedenkort Passagen, Portbou 1993/94, Blick durch den steilen Korridor auf die abschließende Glasscheibe mit dem eingravierten Zitat: 'Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namen­losen ist die historische Konstruktion geweiht.' Foto: Konrad Scheurmann
Der Gedenkort in Portbou
 Auf Anregung des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker beauftragten 1989 das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Inneren den AsKI mit der Planung, Organisation und Realisierung eines Gedenkortes für den deutsch-jüdischen Philosophen Walter Benjamin.
Auf Initiative des damaligen AsKI-Geschäftsführers Konrad Scheurmann konnte der israelische Künstler Dani Karavan für die Realisierung gewonnen werden. Die Ministerpräsidenten Hans Eichel (Hessen) und Erwin Teufel (Baden-Württemberg) übernahmen mit zehn weiteren deutschen Bundesländern, der Regionalregierung von Katalonien sowie privaten Spendern die Finanzierung des Projektes. Am 26. September 1993 wurde in Portbou mit dem Bau begonnen und am 15. Mai 1994 konnte unter großer internationaler Beteiligung (u. a. war Lisa Fittko, die Fluchthelferin Walter Benjamins, anwesend) die Eröffnung gefeiert werden.
„'Passagen' – Gedenkort für Walter Ben­jamin und die Exilierten der Jahre 1933–1945" – so die offizielle Bezeichnung – wurde der Gemeinde Port­bou anschließend geschenkt.

Akademie der Künste Berlin
On my Way – Geschichten aus Europa

Die Ausstellung über das Reisen und seine Beziehung zu den Künsten konnte bisher nicht eröffnet werden, sie ist nun in einem Video-Rundgang der Regisseurin Nataša von Kopp und des Kameramanns Hans Przybilla erlebbar.

https://www.adk.de/de/programm/index.htm?we_objectID=61964

www.adk.de

AsKI kultur leben 1/2020

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