Akademie der Künste, Berlin: Die Brecht-Sammlung Victor N. Cohen

Finnischer Pass von Brecht, © Akademie der Künste, Berlin

Die Sache erinnert an Hebels Geschichte "Unverhofftes Wiedersehen".

Wie die Bergleute dort nach "guten fünfzig Jahren" den verschütteten Jüngling entdecken, so tauchen hier mehr als fünfzig Jahre, nachdem Brecht sie Victor N. Cohen in Goldbach am Zürichsee zur Aufbewahrung gegeben hat, Handschriften, Briefe und Dokumente auf. Das Konvolut ist wie Hebels Bergmann "unversehrt und unverändert" - jedenfalls weitgehend.

Unvermutet öffnet sich der Blick in die kritische Phase einer Biographie, und wir erfahren Unbekanntes aus der Schreibwerkstatt und dem Management Brechts. Der Dichter war einundfünfzig, als er Zürich zum zweiten Male verließ. Aber was wir hier entdecken, sind Zeugnisse aus einer Zeit vor dem Weltruhm, der Kanonisierung und Mythenbildung: Brecht, nach frustrierenden Erfahrungen in den USA zurückgekehrt in den deutschen Sprachbereich, will sich um jeden Preis auf den Bühnen des alten Europa etablieren. Er entfacht ein Feuerwerk an Ideen, sucht Verbündete, knüpft Kontakte zu Verlagen, Theatern, Redaktionen und Agenten. Die Sammlung bezeugt das in einer Deutlichkeit, die alles bisher Zugängliche übersteigt.

Zuletzt lagen die Sachen in einer trockenen Garage: gebündelte Briefstapel, Leinenmappen, Pappordner, Umschläge, von Brecht oder Helene Weigel beschriftet. Darin Manuskripte Brechts, fremde Manuskripte, Briefe von und an Brecht, Notizbuchblätter, Verträge, Urkunden, Dokumente - insgesamt 2.500 Blatt. Nicht gezählt Pässe, Scheckhefte, Rechnungen, eine Schreibmaschine dänischen Formats, die wichtig für philologische Untersuchungen sein wird. Die Dokumente stammen mit wenigen Ausnahmen aus der Zeit von Brechts amerikanischem und Schweizer Exil. Unter den Manuskripten finden sich bekannte Texte in entstehungsgeschichtlich interessanten Varianten: zwei Fassungen des Stückes "Der Kaukasische Kreidekreis", die Erzählungen "Der Augsburger Kreidekreis", "Der Stalljunge", "Das Experiment", "Der große Clown Emaël" - Klebe-Typoskripte, teilweise mit umfangreichen handschriftlichen Korrekturen.

'Was machen mit Deutschland?', Aufzeichnung Brechts, vermutlich Ende 1944, © Akademie der Künste, Berlin

Spektakulärer ist Unveröffentlichtes: Die Aufzeichnung "Was machen mit Deutschland?", entstanden gegen Ende 1944, ist Teil der Diskussionen um Deutschlands Perspektive, an denen Brecht sich im "Council for a Democratic Germany" beteiligte. Die werkgeschichtliche Forschung wird sich mit dem Giacomo-Ui-Projekt befassen, fast 60 Seiten, die nur teilweise im Brecht-Archiv überliefert sind. Der Text "Mein unvergesslichster Charakter", der eine Begegnung mit Hitler im Hofgarten beschreibt, war bislang nur in einer englischen Übersetzung zugänglich. Hier gibt es das korrigierte Typoskript einer deutschen Originalversion, und man liest die Szene, ein Seitenstück zum "Ui", mit Vergnügen. Zu den etwa 150 Blatt Notizen gehören Aufzeichnungen wie "die rechte der gewerkschaftsmit glieder" (sie dürften auf Gespräche mit dem gewerkschaftlich engagierten Vic Cohen zurückgehen), daneben Notizen zum Tod Margarete Steffins, zum Stückprojekt "Aus Nichts wird Nichts", zu "Meti", "Ui" und zu Max Frischs Drama "Als der Krieg zuende war". Ein Entwurf gibt sich als erste Fassung des Gedichts "Der Taifun" zu erkennen, geschrieben am 27. Juni 1941 "auf der höhe von Luzon" im chinesischen Meer. Die Passagiere rätseln, wa rum das Schiff über viele Stunden nicht weiterfährt, "einige sagten, eines taifuns wegen, der um uns tobte / andere befürchteten deutsche piratenschiffe / alle / zogen den taifun den deutschen vor". Brecht notiert eine Variante: "die optimisten sagten: es ist der taifun / die pessimisten: es sind die deutschen". In den Blättern findet sich ein gänzlich unbekannter zweiter Teil: "2 / auf der flucht vor dem a.[nstreicher] / ließ ich in deutschland ein volk / in schweden meine bücher / in rußland meine mitarbeiterin / wohin fliehe ich? / wer belehrt mich? / wie soll ich arbeiten?" Das hat Brecht nicht wieder aufgegriffen, weil er dann die Gedichte zum Tod Margarete Steffins - "Die Verlustliste" u. a. - schrieb.

Unter den Dokumenten fallen von Brecht selbst verfasste Lebensläufe und Werkverzeichnisse ins Auge, Antworten auf den Fragebogen zur Einreise in die USA, Identitätszertifikate, Aufenthaltspapiere, der Staatsangehörigkeitsausweis des Freistaats Bayern, ausgestellt am 10. Oktober 1928 in Augsburg, Schriftwechsel mit der Kantonalen Fremdenpolizei Zürich. Außerdem die Grundstücksurkunde für Brechts Haus in Utting, Mietunterlagen aus Santa Monica und Feldmeilen bei Zürich, Konto-Papiere, Vertragsschriftwechsel mit Verlagen, Komponisten und Ko-Autoren - alles in allem etwa 300 Blatt. Unbekannt waren Ehrenerklärungen für Otto Müllereisert und für den Bruder Walter Brecht; die Erklärung, dass der Bruder nicht aktiv zu den Verbrechen des Nazi-Regimes beigetragen habe, verfasste Brecht zur Unterschrift für Peter Lorre. An Walter schrieb er, mit E. (für Eugen) unterzeichnend: "Lorre ist ein enorm bekannter Filmstar!"

Unter den Manuskripten anderer Autoren seien zwei hervorgehoben: eine Rede aus Thomas Manns Zyklus "Deutsche Hörer" mit einer handschriftlichen Korrektur. Es ist die Beilage zu einem Brief, den Elisabeth Hauptmann am 20. November 1947 an Brecht nach Zürich sandte. Sie schrieb: "Thomas Mann hat uebrigens im letzten Prominenten-broadcast ein paar sehr gute Sachen gesagt. Anbei." Eine absolute Trouvaille ist das Typoskript "Hundert Jahre Marx" von Karl Korsch. Es umfasst 230 maschinengeschriebene Seiten mit handschriftlichen Änderungen des Verfassers. "Kopie für Brecht", schrieb der Verfasser auf das Exemplar. Das ist der sogenannte "Svendborger Marx", an dem Korsch 1936 bei Brecht und in engem Kontakt mit ihm gearbeitet hat. Das Buch erschien 1938 in London; der deutsche Originaltext galt bislang als verschollen.

Was bedeutet dieser Fund für die Brecht-Forschung?
Der Erkenntniszuwachs geht wesentlich auf die insgesamt 350 Briefe von und an Brecht zurück. Ich sehe vier Bereiche, in denen wir Neues erfahren können:
1. Werk und Rezeption / Arbeit in den USA und in der Schweiz

2. Strategie der Rückkehr nach Berlin

3. Ökonomische Situation / C.A.R.E.-Aktion

4. Persönliches

ad 1. Werk und Rezeption / Arbeit in den USA und in der Schweiz
Es gibt unbekanntes Material über Projekte wie den "Galileo" mit Charles Laughton, den "Kreidekreis" für Luise Rainer, "The Duchess of Malfi" für Elisabeth Bergner, "Furcht und Elend" in New York, "Die Gesichte der Simone Machard". Die bereits erwähnte Tätigkeit im "Council" ist in inhaltsreichen Briefen an Paul Tillich und anderen Materialien dokumentiert. Leitfrage war die Beurteilung Hitlerdeutschlands. Im März 1945 schrieb Brecht an Tillich: "Natürlich bin ich weit davon entfernt, als politische Haltung Zerknirschtheit vorzuschlagen und, Thomas Mann hin und her, die Deutschen werden ihr Gesicht ruhig zeigen können, wenn es gut sein wird."

Die Korrespondenz belegt den Austausch und die Zusammenarbeit - oft auch: die gescheiterte - mit Bergner, Rainer, Laughton, mit Dessau und Eisler, mit Joseph Losey, William Dieterle, Orson Welles, Fritz Kortner, Berthold Viertel, Ferdinand Reyher, Paul Czinner, Max Gorelik, mit den Übersetzern W. H. Auden, Hoffman R. Hays, Eric Bentley, Christopher Isherwood. Ein Brief an Fritz Lang, von dem bisher überhaupt keine an ihn gerichteten Briefe überliefert sind, kommentiert die hochproblematische Arbeit an "Hangmen Also Die". Hella Wuolijoki wird über die Zürcher Fassung des "Puntila" informiert. Charles Laughton erhält einen Brief aus Zürich: "making use of the geographical distance I will tell you what is always so difficult to tell into an other man's face". Kompromisslos, furchtlos und in bewundernswerter Weise habe Laughton das Konzept eines neuen Theaters gezeigt. "The American theater will never be the same after your demonstration", schreibt Brecht, und er ergänzt: "I hardly can express how proud I am of our collabaration."

Ein Brief an die Journalistin Ella Winter vom Mai 1948 behandelt hingegen eine "pikante" Angelegenheit: Es geht um Thornton Wilder, der sich einmal als Brechts "pupil" bezeichnet hatte, und dessen Roman "Die Iden des März". Unmittelbar, ehe Brecht vom Kongressausschuss für unamerican activities verhört wurde, hätten Freunde Wilder gebeten, sich zur Unterstützung als Übersetzer Brechts anzubieten. Brecht schreibt: "Wilder lehnte ärgerlich ab, er ,teile nicht meine Meinungen'. Jetzt lese ich, er hat einen Roman über Julius Caesar veröffentlicht und das scheint doch zu beweissen [!], dass er einige meiner Ideen ,teilt', wenn auch nicht das Honorar für sie." Brecht hatte Wilder erzählt, dass er in Dänemark einen Roman begonnen hatte, dessen Witz darin bestand, "dass er fiktiver Weise von einem der Sekretäre Caesars geschrieben war". Der in Plagiatsaffären durchaus Geschulte bat Ella Winter um Hilfe: "Wilder ist ja ein guter Geschäftsmann und wird verstehen, dass es kein Geschäft bedeuten würde, wenn die ,Geschäfte des Herrn Thornton Wilder' literarisch behandelt würden. Er könnte mir vielleicht finanziell behilflich sein, meinen Roman über Caesar zu beenden (dazu einen Teil der Honorar für den seinen verwendend)?" Es ist schon auffällig, dass Wilder wie Brecht die Geschichte anhand erfundener Dokumente erzählt. Eine Frage in "Die Iden des März" wirkt wie ein Gruß Wilders an Brecht: "Cäsar und das Geld! Cäsar und das Geld! Wer wird je diese Geschichte schreiben?"

Völlig neue Konturen erhält die Arbeit mit Elisabeth Bergner an "The Duchess of Malfi", einem Stück aus der Shakespeare-Zeit - durch Briefe, die Brecht ihr geschrieben hat, und durch Briefe an Helene Weigel. In einem Brief von Ende August 1946 empfiehlt er, die Inszenierung ins spanische Milieu zu verlegen. Dieses sei "weniger ausgenutzt als italienisches, und man hat da nicht die ,Shakespeare-Tradition', diese impotente Kreuzung von Italienischem und Englischem." Als es Differenzen gab, bemühte sich Brecht um eine Schlichtung: "Es ist mir aber weit wichtiger, dass wir unsere kleine Streitaxt zehn Meter unter den fremden Boden begraben. [...] Meine Erinnerung an unsere Zusammenarbeit ist sehr angenehm: sie war methodisch und doch leichthändig. Und Ihre Freundlichkeiten sind unvergessen." Das sollte sich im Laufe der Zeit ändern. Am Tag nach der Premiere telegraphierte er Helene Weigel: "As to Bergner I saw what an actress you are", und mit einem Selbstzitat - "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat" - setzte er fort: "as to Laughton unhappy the land / Bidi" (16. Oktober 1946). Gallig begründete er sein Urteil: "die MALFI hat sich die bergner durch ihre feigheit, halbheit und weil sie den kalkulationen ihres spatzenhirns folgte, versaut. [...] langsam, deklamation, keine szene gespielt, die bergner maniriert und cute. an einigen stellen sieht man, mit schrecken, dass sie einmal ein talent war."

ad 2. Strategie der Rückkehr nach Berlin
Die Korrespondenz mit Herbert Ihering, Wolfgang Langhoff, Erich Weinert, Johannes R. Becher, Slatan Dudow, Karlheinz Martin, den sowjetischen Kulturoffizieren Michail Apletin und Alexander Dymschitz sowie Edward F. Hogan von den amerikanischen Besatzungsbehörden stellen Brechts Vorgehen in ein neues Licht. Im Juli 1946 schreibt er A. N. (das ist vermutlich Albert Norden) aus Santa Monica, dass Helene Weigel gern in Berlin spielen möchte, z. B. Mutter Courage. Er selber würde gern wieder am Theater arbeiten, wenn jemand wie die Regisseure Bernhard Reich oder Jacob Geis "an unser altes Schiffbauerdammtheater als Leiter kämen. [...] Bisher hörte ich nur ein schwaches Echo nebuloser Aufforderungen, ans Krankenbett der Germania zu eilen, aber nichts von einer Arbeitsmöglichkeit. Nur Schreiben kann ich ja anderswo leichter - wenn auch nicht grad hier."

Wir erfahren aus erster Hand, wie Brecht nach 1945 gespielt wurde, z. B. aus Briefen Herbert Iherings über die Aufführung von "Furcht und Elend des III. Reiches" und den Abend zum 50. Geburtstag Brechts am Deutschen Theater. Und es wird deutlich, dass Brecht zunächst nur sechs bis acht Wochen in Berlin bleiben wollte, dass er sowohl für das Deutsche Theater als auch für das Theater am Schiffbauerdamm plante und dass für die Weigel neben der Courage auch die Carrar als erste Rolle vorgesehen war.

Für die Rezeption belangvoll ist, welche Stücke Brecht selbst nach 1945 aufgeführt sehen wollte. "Ganz ungeeignet im Augenblick" sei die "Dreigroschenoper", schreibt er Michail Apletin bereits im September 1945 - "aufrichtig befriedigt, dass es abgesetzt wurde und sehr ärgerlich, dass es aufgeführt wurde". Der "Galilei" dürfe nicht in der alten Form gegeben werden; er habe das Stück vollständig umgearbeitet. "Ich habe kein Stück, an dem ich nicht Änderungen machten möchte (und muss)", schreibt er Weinert. Es finden sich auch neue Lesarten des Autors: In einem Brief vom August 1948 schlägt Brecht Heinz Hilpert den "Ui" vor: "Heute, drei volle Jahre nach dem Zusammenbruch des Gangsterregimes, steht immer noch von Seiten des Theaters eine wirkliche Abrechung aus, wie sie selbst in der pflaumenweichen Weimarer Republik immerhin mit Stücken Tollers und Unruhs vorgenommen wurde. Angemessen dem Gegenstand ist die Form der Farce, wenn auch in grossem Stil. Nicht anders können diese blutigen Hanswürste heute dargestellt werden. [...] Die Hauptsache aber ist: fast alle meine andern Stücke können in der ganzen Welt aufgeführt werden, dieses gehört auf eine deutsche Bühne."

Einige Dokumente sind Missing Links - etwa der Brief von Alexander Dymschitz: Die Information darüber, dass es dieses Schreiben gab, verdanken wir dem Tagebuch des Boten. Max Frisch war von Dymschitz gebeten worden, einen Brief persönlich zu überbringen. "Wie dieser Brief genau lautete, wußte ich als Überbringer nicht; Brecht schwieg sich aus". Missing Links sind außerdem eine Vollmacht für Peter Suhrkamp, durch die ein Brief datiert werden kann, und von Brecht geschriebene Fassungen des "Aufruf zum Frieden" vom November 1947. Sie klären die bislang offene Frage der Verfasserschaft.

ad 3. Ökonomische Situation / C.A.R.E.-Aktion
Das Material aus der Cohen-Sammlung gibt uns die Möglichkeit, Brechts finanzielle Verhältnisse genauer zu ermitteln. Das sind zum einen Abschriften von Briefen an Karin Michaelis, aus denen hervorgeht, wie viel die dänische Schriftstellerin Brecht geliehen hat - sie war eine Gönnerin. Am 22. Juli 1937 bestätigt Brecht, dass er von ihr für den Erwerb eines Hauses, eine Amerikareise und für den Unterhalt seiner Familie insgesamt 52.000 Kronen erhalten hat. Mit 100 Kronen im Monat käme man aus, hatte die Weigel Benjamin drei Jahre zuvor wissen lassen.

Auskünfte erteilen ferner Verträge, Tantiemenvereinbarungen, Unterlagen über Bankverbindungen, Scheckhefte und Quittungen aus Zürich, die den Alltag dokumentieren (vom Fotoladen, über die Wäscherei, Metzgerei, Mosterei), auch Atteste sind erhalten.

Ein ganzes Konvolut im Konvolut betrifft die Beteiligung der Brechts, vor allem wohl Helene Weigels, an der C.A.R.E.-Aktion: Sie schickte eine enorme Zahl an Paketen nach Deutschland - an Verwandte, Jugendfreunde und ehemalige Mitarbeiter wie Walter Brecht, Georg Pfanzelt, Otto Müllereisert, Ihering, Suhrkamp, Geis, Müllereisert, Becher, Kantorowicz, Anna Seghers und andere. Aber - und das scheint mir besonders bemerkenswert - die Weigel ließ sich offenbar auch Namen von Unbekannten geben, darunter Hinterbliebene von Naziopfern. Zum Namen Frieda Coppi wird erläutert: "Enkel Hänschen, 5 Jahre alt, beide Eltern hingerichtet, in der Zelle geboren".

ad 4. Persönliches
Die Brecht-Sammlung Cohen enthält eine überquellende Fülle an persönlichen Dokumenten: Freunde und Kollegen von früher nehmen Kontakt zu Brecht auf, erinnern an Gemeinsames und wollen wieder mit ihm arbeiten. Leser bitten um Bücher oder Auskünfte. Es existiert ein Bündel Telegramme zum 50. Geburtstag. Schicksale werden deutlich - etwa das von Alfred Dreifuß, dem Dramaturgen der Jungen Volksbühne während der "Mutter"-Aufführung 1932 in Berlin, der 1935 verhaftet worden war und nach Untersuchungshaft, Gefängnis und KZ mit 16.000 jüdischen Emigranten nach Shanghai gelangte; von dort aus bat er Brecht, ihm eine Aufführung der "Dreigroschenoper" zu ermöglichen.

Zu den bewegendsten Zeugnissen gehört ein Brief Heinrich Manns, der sich am 27. Dezember 1944, zehn Tage nach dem Tod von Nelly, für eine Beileidsbekundung Brechts bedankte: "In der Nähe Ihres herzlichen Gefühles habe ich Ihre Dichtungen, von denen ich viele kannte, nochmals gelesen. Sie sind schön wie je, aber in meinem Zustande der Verlassenheit bemerke ich mehr als sonst die leidende Empfindung in der scheinbaren Härte."

Die Briefe an Steff tendieren zu Notaten; sie setzen das unterbrochene Gespräch zwischen Vater und Sohn fort. Aber es gibt auch Briefe, in denen sich der Vater besorgt über den Gesundheitszustand des Sohnes erkundigt. Persönlich aufschlussreich sind zwanzig Briefe Stefans an Helene Weigel und Barbara sowie elf Briefe von Karin Michaelis an Helene Weigel. Der zweifellos wertvollste Teil dieser schöner Erwerbung sind jedoch Briefe Brechts an Helene Weigel aus den Jahren 1944 bis 1947. Es sind 36 Briefe und drei Telegramme, meist Botschaften von der Ost- an die Westküste. Sie enthalten Berichte über Begegnungen und Projekte, Zärtlichkeiten und Alltägliches. Der Brief vom 21. März 1946 endet: "ich küsse dich vorsichtig und unvorsichtig, sorgfältig und flüchtig, schnell und langsam, heli". Und am 11. Februar 1946 hatte Brecht geschrieben: "liebe helli / ich lerne: gläser + tassen spülen, boden fegen, abfall wegschaffen, rühreier und suppen machen, alles als autodidakt. ich fühle mich dir sehr gewogen, wenn ich gläser spüle, daß du das nun so lange gemacht hast, unter anderm." Der Hintergrund dieses Lernprozesses ist, dass Ruth Berlau nach dem Verlust ihres Kindes mit einer Psychose im Krankenhaus ist. Was wir erst jetzt wissen: Brecht schrieb Weigel, wie es Ruth Berlau ging, behutsam, in Würde und sehr ausführlich. Am Ende heißt es: "das ist der längste brief, den ich je geschrieben hab / ich küsse dich / b".

Was machen wir jetzt damit?
Die LANGE BRECHT NACHT wird ganz im Zeichen dieser Neuerwerbung stehen: Mitglieder lesen unbekannte Briefe von und an Brecht, es werden Briefe von Brecht und Weigel vorgestellt, und eine Auswahl der Originale wird - für nur wenige Stunden - in Vitrinen präsentiert.

Publikationspläne sind zu nennen: Die Briefe von Brecht und Weigel werden noch in diesem Jahr bei Suhrkamp erscheinen. Naheliegend ist ein Supplement-Band zur Berliner und Frankfurter Ausgabe, der die ungedruckten Texte und Briefe aufnimmt. Werner Hecht bereitet ein Ergänzungsheft für seine große "Brecht Chronik" vor (ebenfalls bei Suhrkamp); dort werden erstmals alle chronikrelevanten Fakten aus der Cohen-Sammlung berücksichtigt.

Auch die Briefe an Brecht sind zur Edition vorgesehen: Toralf Teuber bereitet eine Ausgabe sämtlicher Exilbriefe an Brecht vor; sie wird gefördert durch die Thyssen Stiftung und erscheint in der von Hermann Haarmann herausgegebenen Reihe "akte exil". Das Projekt hat soeben eine Verbreiterung seiner Materialbasis um 220 Briefe erfahren; eine Verlängerung des Antrages ist dringend zu wünschen.

Das ist natürlich nicht alles. Der Stoff reicht für Jahre.

Am 1. Dezember wird das Bertolt-Brecht-Archiv fünfzig Jahre bestehen. Die Erben des Schriftstellers (vor allem Helene Weigel), die Akademie der Künste der DDR und seit 1993 die gemeinsame Akademie der Künste haben den Bestand kontinuierlich angereichert. Mit einem ungeheuren personellen und finanziellen Aufwand konnten in den vergangenen fünf Jahrzehnten bedeutende Manuskripte, Dokumente und Briefe hinzugewonnen werden. Herausragend war der Ankauf der "Brecht-Sammlung Renata Mertens-Bertozzi" im Januar 2004. In ihrer Bedeutung für die Brecht-Forschung übertrifft die jetzige Erwerbung jedoch alles, was je über die Schwelle des Archivs gekommen ist. Es ist fraglos der bedeutendste Zuwachs für das Bertolt-Brecht-Archiv.

Der Fund gibt Verschüttetes frei, er ermöglicht die Begegnung mit einer Aufbruchsphase. Brechts Sprache, seine Energie und seine Nöte, der bissige Witz tauchen aus der Versenkung auf. Es ist, als begegne man längst Bekanntem, und doch ist alles neu, frisch und belebend.

Erdmut Wizisla

AsKI-Newsletter KULTUR lebendig 2/2006

.

xxnoxx_zaehler