Reichskammergerichtsmuseum in Wetzlar: Altes Reich und neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit

Codice di Napoleone il Grande pel Regno dItalia, Edizione originale e la sola ufficiale, Milano, Stamperia Reale, 1806, © Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/M.

Am 6. August 1806 endete die Ära des Reichskammergerichts.

Mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation an jenem Tage besiegelte Kaiser Franz II. auch das Ende des seinerzeit höchsten Gerichts, das sein Vorfahre Maximilian I. zusammen mit den Reichsständen auf dem Wormser Reichstag von 1495 gegründet hatte und das nach Stationen in Frankfurt/Main, Worms, Augsburg, Nürnberg, Regensburg, Speyer (1513-1514, 1527-1689) ab 1689 in Wetzlar residierte.

Für die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung zu Wetzlar ist die 200. Wiederkehr dieses Ereignisses Anlass für eine umfassende Ausstellung, die vom 15. September bis 10. Dezember 2006 unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Hessischen Justizministers Dr. Christean Wagner präsentiert wird. Die Geschichte des Gerichts war wechselhaft und farbenreich: in der Frühzeit die zahlreichen Ortswechsel, dann die Zerstörung Speyers und der Neubeginn in Wetzlar, Geld- und Personalnöte, die Visitationen und Skandale, die berühmten Persönlichkeiten am und vor dem Gericht, das gesellschaftliche Leben in seinem Umkreis. Zeitgenossen klagten über die häufig lange Prozessdauer. Von den differenzierten Berichten Goethes, des berühmtesten Praktikanten am Reichskammergericht, blieben nur die negativen Passagen in Erinnerung. Die Reichskammergerichtsforschung der letzten drei Jahrzehnte erschloss die fast 80.000 archivierten Akten und kommt nach ersten gründlichen Auswertungen zu einer überwiegend positiven Beurteilung der Arbeit und der Wirkung des Reichskammergerichts.

Im Mittelpunkt der Ausstellung "Altes Reich und neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit" steht der Versuch, diejenigen Elemente der Rechtsprechung des Gerichts darzustellen, die zukunftsweisend sein Ende überdauert haben. Diese werden besonders in der Zeit des europäischen Umbruchs vor und um 1800 sichtbar. Einerseits zeigt sich das Gericht als Träger der Kontinuität, andererseits entwickelt es moderne Rechtsvorstellungen. Ausgehend vom älteren Rechtszustand veranschaulicht die Ausstellung in einem umfassenden Szenario die Neuentfaltungen im Rechtsverständnis und in der Rechtspraxis, die aus Aufklärung, Naturrecht, französischer Revolution und napoleonischen Umwälzungen folgen: von der Goldenen Bulle zum Code Napoléon, von der Carolina zu den Dalbergschen Reformen, vom Gemeinen Recht zu den Territorialgesetzen. Anhand eingängiger Objekte wird die Rolle des Reichskammergerichts geschildert:

Als unabhängiges Gericht, das im zersplitterten Deutschland über den Territorien und Konfessionen stand, bewirkte es eine Harmonisierung des Rechts und eröffnete die Möglichkeit, sogar den eigenen Landesherrn vor einer höheren Instanz zu verklagen und sich so gegen obrigkeitliche Willkür zu wehren. Und in der Tat brach das Gericht in einer Reihe von Urteilen vor jeder konstitutionellen Grundrechtsbegründung Freiheitsrechten Bahn: Freizügigkeit, Gewerbe- und Berufsfreiheit, Persönlichkeitsentfaltung, Recht am Eigentum, an der eigenen Wohnung und auf rechtliches Gehör - ein Ansatz zum Rechtsstaat und der Beginn der bürgerlichen Freiheit.

Zum Aufbau der Ausstellung
Dass in Deutschland keine Revolution nötig sei, weil der Bürger sich hier gegen Despotenwillkür gerichtlich wahren könne: In dieser unter den deutschen Staatsrechtlern um 1800 verbreiteten Auffassung steckte bei aller Selbstinszenierung ein Funken Wahrheit. Beispielweise obsiegten die Juden des südbadischen Städtchens Ettenheim über ihren Landesherren, den Straßburger Kardinal de Rohan. Er war vor der Revolution über den Rhein geflohen und wollte dort nun die besten Häuser am Platz - eben jene der Ettenheimer Juden - für sich requirieren.

Eine Reihe solcher Prozesse stehen im Mittelpunkt der Ausstellung. Außerdem werden die philosophischen Hintergründe dieses "neuen Rechts" beleuchtet. Dessen Basis stellt sich dar als brisante Mischung aus traditioneller Argumentation mit wohlerworbenen Rechten einerseits und aktueller Freiheitsdebatte andererseits: Die Vollstreckung einer Verwaltungsentscheidung bei Nacht und Nebel, ohne Anhörung der Betroffenen (auch hier ging es um die Vertreibung eines Untertanen aus seinem Haus), geißelte das RKG als "der deutschen bürgerlichen Freiheit zuwider" und gewährte den Betroffenen nicht nur Wiedereinräumung, sondern sogar einen hohen Schadensersatz. Neben dieser Verbesserung bürgerlicher Grundrechtspositionen durch kreative Richter steht die moderne Gesetzgebung des Naturrechtszeitalters. Noch aus dem 18. Jahrhundert stammt das preußische Allgemeine Landrecht von 1794; nach der Jahrhundertwende folgen dann die auch für Deutschland wichtigen napoleonischen Gesetzbücher.

Eine weitere Abteilung der Ausstellung ist den Veränderungen im Strafrecht gewidmet. Im materiellen Strafrecht führte die allgemeine Säkularisation der Gesellschaft zur Umbewertung mancher Delikte wie Kindestötung und Selbstmord. Andererseits galt es, den Herausforderungen durch neue Formen der Kriminalität (Räuberbanden) entgegenzutreten. Bei Strafverfahren und -vollstreckung steht die all-mähliche Zurückdrängung der Folter im Mittelpunkt. Sie hatte zur Voraussetzung, dass man dem Strafrichter die freie Würdigung der Beweise übertrug und die Möglichkeiten zur Verurteilung auch ohne ein Geständnis erweiterte. Die Freiheitsstrafe setzte sich durch, die verschärften, besonders grausamen Todesstrafen traten zurück. Als ambivalentes Symbol für die Bemühung um Humanität durch rasche Vollstreckung einerseits und die dadurch ermöglichten Massenhinrichtungen andererseits steht das Gerät, das den Namen seines Erfinders unsterblich gemacht hat: die Guillotine.

Für die Stadt Wetzlar hatte das Ende des Heiligen Römischen Reiches erhebliche Auswirkungen. Nachdem bereits der Reichsdeputationshauptschluss 1803 den Status als freie und Reichsstadt beseitigt hatte, verlor sie mit dem Reichskammergericht auch noch eine ihrer bedeutendsten wirtschaftlichen Grundlagen. Den Folgen dieser tief greifenden Wandlungen für das städtische Leben und die bürgerliche Kultur widmet sich der letzte Teil der Ausstellung.*

Die Ausstellung "Altes Reich und neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit" wird von der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung und den Städtischen Sammlungen Wetzlar im Reichskammergerichtsmuseum sowie im Stadt- und Industriemuseum präsentiert. Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dr. h.c.mult. Winfried Hassemer, hält den Eröffnungsvortrag, weitere Vorträge ergänzen die Ausstellung. Ein wissenschaftlich fundierter Katalog gibt umfangreiche Informationen zum Thema. Die Ausstellung wurde unter Mitwirkung von Rechtshistorikern des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte und der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main konzipiert.


* Der Abschnitt "Zum Aufbau der Ausstellung" ist Bestandteil einer Presseerklärung von Prof. Dr. Albrecht Cordes, Frankfurt a.M.

 

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