Max-Reger-Institut, Karlsruhe: Der ‘Fall Reger‘ muß ‘chronisch‘ werden! Zum 100. Todestag Max Regers

Max Reger, Motette ‘O Tod, wie bitter bist du‘, op. 110 Nr. 3, Stichvorlage, S. 1, Foto: Max-Reger-Institut – Elsa-Reger-Stiftung, Karlsruhe

In der Nacht auf den 11. Mai 1916 starb Max Reger in seinem Leipziger Hotelzimmer. Vorangegangen waren ein Unterrichtstag am dortigen Konservatorium und anschließende Besprechungen.

Gegen 23 Uhr hatte Reger über Unwohlsein geklagt, ein hinzugerufener Arzt hatte ihm Schmerzmittel verabreicht, woraufhin scheinbar Besserung eingetreten war. Das Angebot seines Freundes Karl Straube, Nachtwache zu halten, hatte Reger abgelehnt. Am Ende kam der Tod des erst 43jährigen Komponisten überraschend und plötzlich – angesichts eines über Jahrzehnte betriebenen extremen gesundheitlichen Raubbaus aber wohl kaum gänzlich unerwartet für ihn selbst und die Menschen, die ihn umgaben. Ein sonderbarer Zufall wollte, dass auf dem Nachttisch die Fahnen der bei Kriegsausbruch 1914 komponierten „Acht geistlichen Gesänge" op. 138 zur Korrektur bereit lagen – obenauf deren Nr. 1 „Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit".

Max Reger auf dem Ochsenkopf, Fichtelgebirge, August 1901, Foto: Max-Reger-Institut – Elsa-Reger-Stiftung, KarlsruheSich in seinen Tätigkeiten einzuschränken und mit seiner Arbeitskraft Maß zu halten, war nicht Regers Sache. Sowohl als ständig schaffender Komponist, wie als unermüdlich reisender Interpret in eigener Sache sowie als Kompositionslehrer war für ihn Musik ein Dauerzustand, dem er sich weder entziehen konnte, noch wollte. „Werk statt Leben" nennt Susanne Popp ihre rechtzeitig zum Reger-Jahr erschienene Reger-Biografie mehrdeutig und treffend zugleich (vgl. innere Umschlagseite hinten). Denn rigoros ordnete Reger alles dem Ziel unter, sein Werk beizeiten „fertig" zu bekommen. In nur zweieinhalb Jahrzehnten schuf er mit 146 gezählten Opera – darunter Sammlungen mit mehrfachen Unterteilungen –, etlichen Werken ohne Opuszahl sowie Fassungen eigener und Bearbeitungen fremder Werke ein gewaltiges Œuvre, dessen Spannbreite bis heute erstaunt und Überraschungen bereithält. Um es auf eine anschauliche Zahl zu bringen: Allein die (Partitur-)Seiten seiner zu Lebzeiten erschienenen Kompositionen addieren sich auf eine fünfstellige Summe.

Gelegentlich hat ihm das den Vorwurf der Vielschreiberei eingetragen. Die Anschuldigung erscheint abwegig gegenüber einem Komponisten, dessen Musik sich – wie alle Kunst – einfachen Kategorisierungen entzieht, unzweifelhaft aber hohe Ansprüche an Interpreten und Hörer stellt. Verständlicher wird sie allenfalls angesichts Regers starker Betonung handwerklicher Aspekte des Komponierens: Kunst komme von Können, lautete sein in zahlreichen Variationen vorgetragenes Credo; er war überzeugt, „daß ein wahrer Fortschritt nur kommen [...] kann auf Grund der genauesten und liebevollsten Kenntnis der Werke derer ,von gestern'".1

Max Reger, ‘Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit‘, op. 138 Nr. 1, Korrekturabzug, S. 3, Foto: Max-Reger-Institut – Elsa-Reger-Stiftung, KarlsruheEine Einschränkung der musikalischen Ausdrucksmittel aus Gründen einer pragmatischen Konzession oder künstlerischen Parteilichkeit lehnte er hingegen vehement ab: „Alles ,ianerthum' ist mir stets ,unfrei' erschienen! [...] Ich [...] nehme eben das Große wo es ist u. blüht, ob es nun von Brahms oder Bruckner oder Wagner oder Strauß ist."2 Wesentlich sei, dass Musik „ungeahnte seelische Stimmungen" immer wieder neu zum Ausdruck bringe. So ist es möglich, dass sich in seiner Musik überkommene klassisch-romantische und barocke Formen mit einem beherrschenden, notwendigerweise modernen Ausdruckswillen verbinden. Reger entwickelt nicht nur in seinen avancierten Werken für den Konzertsaal, sondern auch in seinen für die kirchenmusikalische Praxis oder als Hausmusik konzipierten Sammlungen, deren Einzelstücke nicht immer auf Originalität pochen können, gleichwohl eine eigentümliche, unverkennbare Tonsprache.

Das Verständnis dieser Ausdruckswelt aber hängt wesentlich von der Vermittlung durch Interpreten ab. Um „eine Tradition zu schaffen", hetzte Reger ab 1904/05 als Pianist und Dirigent von Stadt zu Stadt, von Konzertsaal zu Konzertsaal. Die 57 Konzerte, die ihm im Winterhalbjahr 1915/16 zum Verhängnis werden sollten, nehmen sich gegenüber Vorjahren eher gering aus, bedeuteten aber unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft eine besondere Anstrengung. Reger hat die drohende Überlastung im Herbst 1915 mit der Begründung auf sich genommen: „Der ,Fall Reger' muß ,chronisch' werden!"3

www.reger2016.de

„Reger muß [...] viel gebracht werden", forderte auch Arnold Schönberg im Oktober 1922 mit der schlichten Begründung: „1. weil er viel geschrieben hat; 2. weil er schon tot ist und man noch immer nicht Klarheit über ihn besitzt (Ich halte ihn für ein Genie.)"4. Klarheit über Reger zu gewinnen, ist heute, 100 Jahre nach seinem Tod, etwas einfacher geworden: 2010 erschien in zwei Bänden das „Reger-Werk-Verzeichnis" (RWV), seit 2008 entsteht im Max-Reger-Institut in Karlsruhe die „Reger-Werkausgabe" (RWA).5 Insbesondere bietet das Internetportal "www.reger2016.de" des MRI neben einem weltweiten Veranstaltungskalender auch ein Klangarchiv, um sich hörend mit Regers Musik vertraut zu machen.

Das Jubiläumsjahr 2016 hält mit seinen bundesweit und international zahlreichen Veranstaltungen gute Gelegenheiten bereit, Regers Werke in ihrer Breite und Fülle kennen zu lernen. Sowohl die biografischen „Reger-Orte" wie auch zahlreiche andere Städte beweisen mit eigenen Konzerten und Veranstaltungsreihen eine lebendige Reger-Pflege vor Ort – beispielhaft in Leipzig, wo ab März eine Ausstellung des MRI im Bach-Archiv zu sehen ist, Mitte Mai eine viertägige wissenschaftliche Konferenz gemeinsam mit der Universität stattfindet und im Juni das diesjährige Bachfest Reger und sein bewundertes Vorbild in Beziehung setzt. An etlichen kleineren und größeren Reger-Festivitäten ist das MRI durch Vorträge, Rollup-Ausstellungen oder Textbeiträge beteiligt. Nicht zuletzt wird im Herbst ein Orgelkurs mit Festkonzert im renommierten Istituto di Musica Sacra in Rom stattfinden, das Roberto Marini, der in den vergangenen Jahren als erster ausländischer Organist eine Reger-Gesamtaufnahme präsentiert hat, in Kooperation mit der Casa di Goethe plant.

Der auf www.reger2016.de gegebene Veranstaltungskalender wächst stetig und wird im MRI beständig aktualisiert.

Dr. Alexander Becker

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Reger-Werkausgabe
Max-Reger-Institut – Elsa-Reger-Stiftung

1 Max Reger, „Musik und Fortschritt", in: „Leipziger Tageblatt", Nr. 165 vom 16.6.1907.

2 Brief Regers an Georg II. von Sachsen-Meiningen vom 27.9.1912, in: H. und E. H. Mueller von Asow (Hrsg.), Max Reger. „Briefwechsel mit Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen", Weimar 1949, S. 327f.

3 Brief an den Verlag N. Simrock vom 5.9.1915, in: S. Popp (Hrsg.), „Max Reger. Briefe an den Verlag N. Simrock", Stuttgart 2005 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts Karlsruhe, Bd. 23), S. 273.

4 Brief Arnold Schönbergs an Alexander von Zemlinsky vom 26.10.1922, in: E. Stein (Hrsg.), „A. Schönberg. Ausgewählte Briefe", Mainz 1958, S. 81.

5 Vgl. "KULTUR lebendig" 1/2011, S. 14f.

AsKI KULTUR lebendig 1/2016

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