"Kulturarchitekt der deutschen Einheit" - Waldemar Ritter zum 70. Geburtstag

Waldemar Ritter ist siebzig geworden. Wer ihn noch als Studentenführer und Jugendpolitiker gekannt hat, kann das kaum glauben. Wer ihn heute kennt, auch nicht.

 

Waldemar Ritter ist der große Einzelkämpfer unter den Deutschen, die etwas zu sagen haben. Nicht nur als Politologe und Historiker, als Kulturpolitiker und Europäer, als Publizist, Kulturkritiker und Kurator, als Ministerialdirigent a.D. und als Generalist. Nein - er hat vor allem das, was Humboldt die "Universitas" genannt hat. Ein kritischer und völlig unabhängiger Mann, mutig und dennoch vornehm zurückgenommen, mit wenigen Grundsätzen und Zielen.

 

Waldemar Ritter, © Foto: Privat

Mir hat gefallen, nein, mir gefällt die Art und Weise seines Herangehens und seines Gestaltungsprinzips des erfolgreichen Verbindens und Zusammenwirkens von Kultur, Politik und Wissenschaft. Auch seine Veröffentlichungen und Präsentationen, wie sein Buch "Kultur und Kulturpolitik im vereinigten Deutschland" oder im vergangenen Jahr seine Ausstellung zeitgenössischer Kunst im Bundeskanzleramt, waren gelungene Beispiele dafür.

Natürlich war Waldemar Ritter schon in seiner Studentenzeit für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und eine bessere Politik im Sinne der Freiheit, der Demokratie und der Gerechtigkeit als ständige Aufgabe im Nachkriegsdeutschland. Manchmal ungestüm, temperamentvoll und herausfordernd. Meistens aber in der Gewissheit, dass jedes Problem in Form und Inhalt seine eigene Lösung hat. Unvergessen seine freche Anrede nach vielen Sonntagsreden auf dem Bundeskongress des Kuratoriums Unteilbares Deutschland in Berlin: "Meine Herren Professoren, Senatoren, Pastoren und andere Toren." Unvergessen, als er dem NPD-Bundesvorsitzenden die Bühne der Bonner Beethovenhalle streitig machte. Unvergessen seine Rede als gewählter Sprecher aller demokratischen deutschen Jugendverbände gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die CSSR auf der Großkundgebung vor der sowjetischen Botschaft in Rolandseck. Unvergessen seine Solidarität mit Solidarnosc und sein Einsatz für die Aussöhnung mit Polen und Frankreich. Für Waldemar Ritter waren der Elysée-Vertrag mit Frankreich und die Gnesener Erklärung der polnischen Bischöfe der Beginn der Wende in Europa: "Wir vergeben, und wir bitten um Vergebung."

Nirgendwo kommt die Haltung von Waldemar Ritter besser zum Ausdruck als in seinem jahrzehntelangen Eintreten für die deutsche und europäische Einheit und die Freiheit aller Deutschen und aller Europäer. Es war nur folgerichtig, dass er dem nachdrücklichen Wunsch Herbert Wehners, in das gesamtdeutsche Ministerium zu kommen, 1967 entsprochen hat.

Ritter war in der ersten Reihe, die Deutschland- und Ost-Politik mitzugestalten und das Bewusstsein von der Einheit wach zu halten. An den Brief zur deutschen Einheit (1970) und Korb drei der KSZE (1975) möchte ich nur beispielsweise erinnern. Zugleich aber galt es - und je länger die Teilung Deutschlands dauerte, umso mehr - dagegen zu kämpfen, dass die Illusionen durch neue abgelöst werden, dass manche aus der Not der Teilung eine Tugend machen wollten. Waldemar Ritter gehört zu den wenigen, die spätestens mit dem Ende der Breschnew-Doktrin den Zusammenbruch des Ostblocks sehr deutlich vorausgesehen und ausgesprochen haben.

Das Ende des DDR-Regimes und die Wiedervereinigung, die Freiheit der Menschen, die Demokratie in ganz Deutschland und in ganz Europa waren dann auch die Erreichung seines politischen Lebenszieles. Der erste und letzte aus freien Wahlen hervorgegangene Kulturminister der DDR, Herbert Schirmer, schrieb über Waldemar Ritter und den Vorabend zur deutschen Einheit:
"Es war die turbulenteste Nacht, die je ein Ministerium der DDR zu durchleben hatte. Und es war die letzte Aktion, zu der von einem zentralen Kulturministerium aufgerufen worden war. Wir schrieben den 2. Oktober 1990. Tatort Berlin - Hauptstadt der DDR. Tatzeit: früher Abend. Im Zimmer des Noch-Kultur-Ministers, auf einem ältlichen schwarzen Ledersofa sitzend, Waldemar Ritter und Heiner Müller im Gespräch vertieft. Vorzüge und Tücken der Kulturhoheit der Länder wurden in unverkrampften Dialog zwischen dem Bundespolitiker und dem ungewöhnlichen Dramatiker gelassen erörtert, während draußen vor der Tür Künstler und Kulturschaffende der DDR auf ihre Weise die Auflösung der ungeliebten Funktionärsrepublik betrieben."


Und über Waldemar Ritters Verhandlungen zum Einigungsvertrag konstatierte er:
"Ein geschickter Diplomat, dem es dank seiner differenzierten Sachkenntnis schon frühzeitig gelang, Vorurteile auf beiden vertragsvorbereitenden Seiten auszuräumen und nachdrücklich für gegenseitige Akzeptanz zu sorgen. Häufig fand er am Ende einer komplizierten Verhandlung die richtigen Worte und Argumente, mit deren Hilfe er Skeptikern, die sich zumeist aus den Reihen der Kulturpolitiker aus den Ländern rekrutierten, die Ängste vor einer unliebsamen Einmischung des Bundes in deren eifersüchtig gehütete kulturpolitische Kompetenz nehmen konnte."

Die bestimmenden Faktoren im Denken und Handeln Waldemar Ritters waren und sind die Freiheit und die Würde des Menschen und die Fundamente unserer europäischen Kultur. Bereits 1964, als Waldemar Ritter aufgrund seiner Initiative zusammen mit Willy Brandt in Aachen den "Europa Grundstein des Friedens" legte, sagte er: "Die deutsche und die europäische Einheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Ohne die deutsche Einheit wird es die europäische Einheit nicht geben. Ohne die gesamteuropäische Freiheit ist die deutsche Einheit und Freiheit nicht möglich." Waldemar Ritter hat die Wechselwirkungen der Prozesse deutscher und europäischer Einheit unter ausdrücklicher Einbeziehung der östlichen Nachbarn in den Vordergrund gestellt und auch die Diskussion über die europäische Grundrechtscharta mit ausgelöst, von der er vor vier Jahren schrieb, dass ihr "eine breite Verfassungsdebatte auf dem Fundament europäischer Kultur und ihrer Grundwerte zur politischen Union der Völker und Staaten Europas folgen muss."

Es war ein Glücksfall, dass so ein Mann für die innerdeutschen Kulturangelegenheiten des Bundes verantwortlich war. Nach der Vereinigung war "seine größte Leistung", so schrieb der Präsident des Deutschen Kulturrates, "das Zustandekommen, die Umsetzung und die Verteidigung der drei großen Kulturprogramme des Bundes, durch die bis zum Finanzausgleich 1995 5,5 Milliarden DM für die Neuen Länder zur Verfügung gestellt wurden. Der Anteil, den Dr. Ritter an der Substanzerhaltung, der Entwicklung der kulturellen Infrastruktur und des Denkmalschutzes in den neuen Ländern hat, kann kaum überschätzt werden."

Waldemar Ritter ist ein Landvermesser und Gestalter unserer Kultur und Politik. Auf den Punkt gebracht hat die Bedeutung seiner nachhaltigen Wirkung der damalige Präsident der Kultusministerkonferenz, der Sachsen-Anhaltische Kulturminister, Karl Heinz Reck, der Waldemar Ritter als "Kulturarchitekten der deutschen Einheit" bezeichnete: "Als Urgestein deutsch-deutscher Kulturpolitik" so betonte er, hat Waldemar Ritter "einen Fußabdruck in der innerdeutschen Geschichte hinterlassen." Seine Arbeit und sein Leben zeugen bis heute davon.

 

Annemarie Renger

Dr.h.c. Annemarie Renger, Bundestagspräsidentin a.D.

 

Auszüge einer Laudatio, gehalten am 25.3.2003 in Bonn anlässlich des 70. Geburtstags von Ministerialdirigent a.D. Dr. Waldemar Ritter

 

AsKI KULTURBERICHTE 2/2003

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