Klassik Stiftung Weimar: Lebensfluten – Tatensturm. Neue Dauerausstellung im Goethe-Nationalmuseum

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Leitmotiv - Ausschnitt aus: Johann Wolfgang von Goethe, 1829, Friedrich Dürck nach Joseph Carl Stieler, Öl auf Leinwand © Klassik Stiftung Weimar

Zum 263. Geburtstag Goethes am 28. August 2012 feierte die Klassik Stiftung Weimar die Wiedereröffnung des Goethe-Nationalmuseums mit der neuen Ausstellung »Lebensfluten - Tatensturm«.

In elf Räumen, von denen sieben thematischen Leitbegriffen gewidmet sind, verdeutlicht die Ausstellung die unerhörte Vielschichtigkeit Goethes. Auf 800 Quadratmetern und mit über 500 Exponaten präsentiert die Klassik Stiftung Weimar Goethe als Zeugen seiner Epoche, in der sich das Zeitalter der Moderne abzuzeichnen beginnt. Der Titel der Ausstellung ist dem Auftritt des Erdgeistes in der Nachtszene des Faust I entnommen: »In Lebensfluten, im Tatensturm / Wall' ich auf und ab, / Webe hin und her! / Geburt und Grab, / Ein ewiges Meer, / Ein wechselnd Weben, / Ein glühend Leben, / So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und webe der Gottheit lebendiges Kleid«. Angelehnt daran lässt »Lebensfluten - Tatensturm« Goethes Vielfalt und Widersprüchlichkeit, das Fließend-Unabgeschlossene, immerzu überraschend Neue, kurzum, seine Lebendigkeit zutage treten.

In den fast 83 Jahren seines Lebens schrieb Goethe mehr als 50 Millionen Zeichen - ohne Leerzeichen, weil mit Feder und Tinte auf Papier - bzw. ließ sie schreiben. Er legte über 40.000 Kilometer zurück - nicht im Jet oder Cabriolet, sondern per Kutsche, zu Fuß oder hoch zu Ross. Er war mit mehr Zeitgenossen persönlich bekannt als die Stadt, in der er lebte, Einwohner hatte, schrieb wohl an die 20.000 Briefe - von denen mehr als 15.000 erhalten sind - an etwa 1.500 Adressaten, hinterließ 2.100 eigene Zeichnungen, sammelte über 26.000 Kunstwerke, denen noch einmal gut 23.000 Naturalien zur Seite stehen, hatte einen Sprachschatz von 80.000 Wörtern - das Goethe-Wörterbuch, seit 1978 erscheinend, ist gerade beim Buchstaben K (Band 5, Lieferung 6: »Körperbau - krüppelhaft«) angekommen. Goethe las zeitlebens, bestückte seine Bibliothek von über 7.000 Bänden und führte fortwährend Gespräche, die, bloß die Spitze eines Worteisberges, auf 5.368 Seiten dokumentiert sind. Wie kann dieser wahrhaft gigantische Nachlass, das Goethe-Massiv, in Szene gesetzt werden?

Goethes Reisemantel, um 1815, Foto: GRUPPE Köln, H. G. Scheib © Klassik Stiftung Weimar

»Lebensfluten - Tatensturm« ist nicht die erste Ausstellung ihrer Art. Überall in Deutschland und vielfach in der Welt wurde immer wieder versucht, Goethe auszustellen. Weimar allerdings hat die wohl längste, seit 1885 andauernde Tradition. Nachdem in jenem Jahr Goethes letzter Enkel gestorben war, ging man unverzüglich daran, das Haus am Frauenplan als ein Museum zu inszenieren. Viele Ausstellungen folgten. Das Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar für das Jahr 2012 unternimmt unter dem Titel »Literatur ausstellen« den Versuch, einige dieser Inszenierungen zu dokumentieren. Als Rettung im eigentlich Unmöglichen erschien den Kuratoren, die in dieser langen Ausstellungsgeschichte aufeinander folgten wie die Jahrzehnte im Jahrhundert, immer erneut, dem ›Kosmos‹ Goethe mit der Errichtung eines Monuments Herr zu werden:

DAS Genie, DER Humanist, DER Deutsche, DIE Persönlichkeit stand dann jeweils auf dem Sockel in ehernen Lettern zu lesen. Keine erfolgversprechende Strategie, wie wir heute meinen. Die immer wieder hypostasierte ›Persönlichkeit‹ Goethes sollte viel eher als ein riesiges, sich fortwährend vergrößerndes Netz verstanden werden, das durch die Epochenfluten jener ›Sattelzeit‹ vor und nach 1800 gezogen wurde, als die Grundlagen und Widersprüche der Moderne sichtbar wurden. Heute, im digitalen Zeitalter mit seinen Netzen und Schwärmen, fällt es uns vielleicht leichter, uns einer solchen Metaphorik des Fließend-Unfassbaren anzuvertrauen. Und wir erfahren beglückt, dass Goethe dieses Herangehen nicht nur zulässt, sondern programmatisch vorwegnimmt. Wissenschaft und Kunst, schreibt Goethe in seiner Zeitschrift Propyläen, »gehören wie alles Gute der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden.«

Goethes Schreibutensilien, Foto: Alexander Burzik © Klassik Stiftung Weimar

Die Klassik Stiftung rückt ihre Inszenierung Goethes getrost auf die Bühne dieses großen Spiels, die allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, das Goethe antizipierte und das gerade eben beginnt, unsere Lebensrealität zu werden.

Jeder Besucher der Ausstellung beteiligt sich an dieser allseitigen Wechselwirkung und fördert sie dadurch als ihr Mitspieler. Er ist eingeladen, die Ausstellung in den viel größeren Erfahrungsraum des ›Kosmos Weimar‹ einzuordnen, zunächst in die unmittelbare Nachbarschaft von Goethes Garten und seines Wohnhauses, dann in die reiche Kulturlandschaft Weimars mit ihren Dichterhäusern, Schlössern, Parks und Museen und schließlich in die helle und dunkle Geschichte dieses einzigartigen deutschen Erinnerungsortes. Gar nicht ausgeschlossen ist es, dass dieser Mitspieler am Ende besser versteht, was Goethe mit seiner Regieanweisung: »Mach's einer nach und breche nicht den Hals.« eigentlich gemeint hat.

Illustration zu Faust. Eine Tragödie: Erscheinung des Erdgeistes, 1810/1812 oder 1819, Johann Wolfgang von Goethe, Bleistiftzeichnung © Klassik Stiftung Weimar

Die Leitbegriffe »Genie«, »Gewalt«, »Welt«, »Liebe«, »Kunst«, »Natur« und »Erinnerung« illustrieren in der Ausstellung kulturelle Diskurse um 1800, die zugleich eine Brücke zu Themen unserer Zeit schlagen. Sie stehen stellvertretend für eine Vielzahl an Bedeutungen in Goethes Leben und Werk. Verbindendes Element zwischen den thematischen Räumen ist die »Faust-Galerie«.

Hier können Besucher jedes im Faust enthaltene Substantiv auswählen, worauf das Wort und seine Verwendung im Faust sogleich in den Raum projiziert werden. Zentrale Exponate sind neben Dokumenten von Goethes Hand Objekte aus seiner naturkundlichen Sammlung und bedeutende Werke der Kunst. Besucher begegnen der Federzeichnung »Genius des Ruhms« von Johann Heinrich Meyer und der »Juno Ludovisi«, aber auch Gegenständen aus Goethes Leben - von seiner Hofuniform über seinen Reisepass nach Rom bis hin zu seinem auf Reisen benutzten Schreibzeug. Die Ausstellung schöpft aus einem einzigartigen Fundus wertvoller Originale und ergänzt somit den atmosphärischen Eindruck des Wohnhauses.

Vielfältige Vermittlungsangebote (Medienguide, Einführungsfilm, Führungen, Lese- und Hörkabinett) bieten sowohl Einstieg als auch Vertiefung in Goethes Welt. Ein Medienguide begleitet die Besucher durch das gesamte Goethe-Nationalmuseum. Dafür wurde mit der Firma MESO, Frankfurt am Main, ein System entwickelt, das es ermöglicht, Stationen in der Ausstellung und in Goethes Wohnhaus anzusteuern. Das Display dient dabei der räumlichen und inhaltlichen Navigation zugleich. Eine 20-minütige Kurzführung durch die Ausstellung vermittelt über sogenannte Leitobjekte einen Überblick über die Museumsräume. Je nach Interesse können zusätzlich über 90 Minuten verschiedene Themenstränge verfolgt werden (Biografie, Literatur und Erkenntniswege). Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Literaturvermittlung. Zu einzelnen Objekten können Besucher Literatur sammeln und so eine persönliche Goethe-Anthologie für das neu eingerichtete Lese- und Hörkabinett zusammenstellen. Dort steht die Literatur selbst im Mittelpunkt. Besucher sind eingeladen, in Goethes Werken zu lesen oder mit dem Medienguide Texten ihrer Wahl zu lauschen. Der Audiorundgang durch Wohnhaus und Ausstellung wird in deutscher und englischer Sprache angeboten. In Kürze wird auch ein Audiorundgang für Kinder zur Verfügung stehen. Besuchern, die keine Hörführung wünschen, wird ein gedruckter Führer durch Goethes Wohnhaus und die Ausstellung angeboten.


Zur Ausstellung ist ein umfangreiches Begleitbuch mit Beiträgen der Kuratoren sowie u.a. von Herbert Grönemeyer, Durs Grünbein, Ivan Ivanji, Michael Jaeger, Harald Lesch, Rafik Schami und Karin von Welck erschienen
(288 Seiten, 162 Abbildungen, ISBN: 978-3-7443-0154-1, 14,90 Euro).

AsKI KULTUR lebendig 2/2012

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