Der Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts - Ausstellung in der Kunsthalle in Emden

Bettina Rheims, 4 juillet II, Paris 1991 Aus der Serie Chambre Close, c-print, © Bettina Rheims / Gina Kehayoff Verlag München

Der Akt ist eines der ältesten und faszinierendsten Motive in der bildenden Kunst überhaupt.

Von der Rolle des antikisierenden Ideals oder passiven Modells für christliche und mythologische Themen befreit, erlebt das Motiv in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine bis dahin ungeahnte differenzierte Erweiterung seiner inhaltlichen und formalen Ausdrucksmöglichkeiten.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem nackten Körper erhält damit einen neuen Sinn: Der Begriff "Akt" steht im 20. Jh. für die ganze Breite künstlerischer Darstellungen des nackten Körpers vom naturalistischen Abbild bis zur Imagination, von der Vergewisserung des eigenen Körpers bis zum entgrenzenden Experiment. Der Kult um Ernährung, Sport, Schönheit und Sexualität hat in den westlichen Wohlstandsgesellschafen großen Einfluss auf den Alltag gewonnen - die Beschäftigung mit dem eigenen Körper nimmt einen zentralen Platz im privaten Leben ein. Nach der technischen steht die gentechnische Eroberung des Körpers offenbar kurz bevor. Die medizinischen Fortschritte eröffnen ungeahnte Möglichkeiten der Heilung und Veränderung des Körpers. Doch trotz der Bilderflut nackter Körper in den Massenmedien hat der Akt in der Kunst nichts von seiner Brisanz verloren, trotz des radikalen Bruchs mit der akademischen Kunst bleiben weit zurückreichende Traditionen der Aktdarstellung bis in die Gegenwart tragfähig und bilden eine stete Quelle für künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Körper. Lucian Freud, Women Holding Thumb, 1992 Öl/Lw, Sammlung Lambrecht-Schadeberg Rubens-Preisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst Siegen, © by Lucian FreudDas Motiv des unbekleideten Körpers bietet geradezu unerschöpfliche Möglichkeiten, die Sicht des Menschen auf sich selbst, seine Ideale, Ängste, Hoffnungen und Träume darzustellen. In dem gleichen Maße, wie der körperlich aktiv arbeitende Mensch im 20. Jahrhundert durch Industrialisierung und Rationalisierung an Bedeutung verliert, avanciert der Körper in der Kunst zum zentralen Thema: Sein drohendes Verschwinden in der Arbeitswelt scheint seine Rehabilitierung in der Kunst zur Folge zu haben. Die Künstler suchen nach immer neuen Ausdrucksformen, die sich mit dem Körper in den verschiedensten Kontexten befassen. Nicht zuletzt durch die Kunst ist der Körper im 20. Jahrhundert zum "Ort der persönlichen Identität" geworden. Im Spannungsfeld stets wechselnder ästhetischer, moralischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Normen ist die Aktkunst eine Reflexionsfläche und ein Impulsgeber für Entwürfe und ein kontinuierliches Korrektiv der Definition des Menschen. Als einzig verbleibender Ort des vermeintlich Wahren und Authentischen ist der Körper des Menschen, dessen Fühlen und Erleben im 20. Jahrhundert in das Zentrum des Interesses gerückt. Wie im Leben wird der Körper auch in der Kunst immer wieder auf die abenteuerliche Reise zwischen Experiment und Vergewisserung geschickt. Die in den letzten drei Jahren vorbereitete Ausstellung vereint gleich mehrere Superlative: Bei Nutzung aller Räume der im Jahre 2000 erweiterten Kunsthalle ist sie die bislang größte Schau der Kunsthalle in Emden. Mit über 200 Leihgaben aus internationalen Museen und Privatbesitz von mehr als 90 namhaften Künstlern gibt die Ausstellung einen umfassenden Einblick in die Vielfalt der Aktkunst des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Unter den präsentierten Künstlern finden sich bekannte Namen wie Paul Cézanne, Auguste Renoir, Paula Modersohn-Becker, Pierre Bonnard, Pablo Picasso, Man Ray, Ernst Ludwig Kirchner, Imogen Cunningham, Egon Schiele, Suzanne Valadon, Edvard Munch, Otto Dix, Alberto Giacometti, Willem de Kooning, Yves Klein, Tom Wesselmann, Louise Bourgeois, Francis Bacon, Henry Moore, Kiki Smith, Lucian Freud, Marlene Dumas, Nobuyoshi Araki, Bettina Rheims und Bill Viola, aber auch zahlreiche bislang weniger bekannte Künstler, deren Arbeiten ganz neue Perspektiven auf die Thematik eröffnen. Zugunsten einer spannungsreichen Gegenüberstellung ganz unterschiedlicher Kunstwerke sieht die Ausstellung bewusst von einer chronologischen und stilistischen Gliederung ab. So treten hochkarätige Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen der klassischen Moderne in einen Dialog mit Fotografien, Videoarbeiten und Installationen der Gegenwart.

Die Ausstellung macht Konstanten, Brüche und Innovationen erkennbar und untersucht, auf welche Weise die Kunst des 20. Jahrhunderts mit dem Motiv des nackten Körpers umgeht, welche Fragen die Künstler beschäftigen, welche Möglichkeiten sie sich erarbeiten, wie sie den Körper einsetzen und nicht zuletzt, welche Tabus sie brechen. Eine Gliederung in sieben Themenschwerpunkte sowie ein weit gefächertes museumspädagogisches Angebot, eine Audioführung und ein ausführlicher Ausstellungskatalog begleiten den Besucher auf seinem Weg durch die faszinierende Vielfalt des "Aktes in der Kunst des 20. Jahrhunderts".

Dr. Nils Ohlsen,
wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kunsthalle in Emden
  • Der Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts
    (bis 26. Januar 2003)
  • Serviceangebot: Verschiedene Führungen, Audioführung, spezielles Programm für Schulklassen und diverse Kreativ-Workshops
  • Info und Anmeldung unter: Tel. 04921/975080
  • Internet: www.kunsthalle-emden.de
  • Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, rund 300 Seiten mit ca. 220 Farbabbildungen. Preis an der Museumskasse ca. 35,- €.

 

AsKI KULTURBERICHTE 3/2002

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