Das zweite Leben – Thomas Mann 1955-2005. Sonderausstellung des Buddenbrookhauses in der Lübecker Katharinenkirche

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© Foto Plakat: Kulturstiftung Hansestadt Lübeck

„Thomas Mann, des 20. Jahrhunderts größter Schriftsteller deutscher Sprache, schloss seine Augen für immer ... Unser Herz fühlt schwer den Verlust und unsere Stirnen senken sich in Trauer ... Das wird ins Buch der Geschichte eingetragen sein: Thomas Mann hat geschaffen zu wahrem Ruhm und wahrer Ehre unseres Volkes.“

So tönt es mit befremdlichem Pathos aus einer Hördusche im Eingangbereich der Lübecker Katharinenkirche. Eine von vielen Stimmen. Wer den Raum betritt, hört ein Gemurmel, ein Geistergespräch über Thomas Mann, das Gespräch einer Lesergemeinde, die sich selten eins war im Urteil über Thomas Mann. Das Zitat stammt von Lothar Bolz.

Er spricht 1955 für den Ministerrat der DDR. Von der Kanzel derselben Kirche weht eine Fahne, die verkündet, Thomas Mann gehöre in die Vorgeschichte des deutschen Faschismus. Und im Bereich des Altars, auf dem das letzte Tagebuch Thomas Manns aufgeschlagen liegt, liest man die „Bunte“: „Die Enthüllung des Jahres. Wie werden Deutschlands Oberlehrer nun ihren Thomas Mann unterrichten? Der Dichtergott schwul.“

„Das zweite Leben – Thomas Mann 1955-2005“ ist die Ausstellung überschrieben, die das Buddenbrookhaus aus Anlass des 50. Todestages von Thomas Mann bis zum 31. Oktober in der Katharinenkirche zeigt. Sie bietet einen „anderen“ Blick auf Thomas Mann, denn sie handelt nicht allein vom Schriftsteller und seinem Werk, sondern genauso von seinen Lesern. Ihre Zahl wächst 50 Jahre nach Thomas Manns Tod weiter.

Fundament dieses anhaltenden Interesses an Thomas Mann ist ganz sicher das Werk, das im Laufe der Jahrzehnte nicht aus dem Blick geraten ist. Doch anderes kam hinzu: Tagebuchveröffentlichungen entfachten die Neugier – eben nicht nur der Literaturwissenschaftler – auf Intimes, Äußerungen Thomas Manns werden zu aktuellen Fragen der Politik zitiert, seine Werke flimmern in populären wie umstrittenen Verfilmungen über den Bildschirm, die Familie Mann wurde zum medial inszenierten Mythos.

In dieser anderen „Jubiläumsausstellung“ wird nicht schlicht mit einem abermaligen Blick auf Leben und Werk Thomas Manns gedacht, sondern erstmalig das Gedenken, die Wahrnehmung des Autors selbst zum Thema gemacht. Damit kommen die Leser ins Blickfeld, die Literaturkritiker, die Filmemacher, die Politiker, die Schriftstellerkollegen, die Sensationsjournalisten: Das „zweite Leben“ Thomas Manns erzählen sie. Die Ausstellung lässt sie vor dem Hintergrund der Aussagen Thomas Manns über sich selbst zu Wort kommen. Die wechselvolle Wirkungsgeschichte Thomas Manns zeigt sich über diese Zeugnisse auch als ein Stück deutscher Kulturgeschichte der letzten 50 Jahre.

Ausstellung in der Lübecker Katharinenkireche © Foto: Kulturstiftung Hansestadt LübeckBewusst gewählt ist der Ort, die Lübecker Katharinenkirche, aus zweierlei Gründen. Thomas Mann war Schüler des benachbarten Katharineums. Die Rückschau auf sein Nachleben kehrt damit zum einen an den Ort seiner Anfänge zurück. Zum anderen bietet der sakrale Raum einen atmosphärischen Hintergrund, zu dem die Ausstellungsgestaltung einen Kontrapunkt setzt: „Das zweite Leben“ ist als eine moderne Installation aus Text und Ton, Bild und Film in diesen Raum eingebettet. Im Mittelschiff wird die Wahrnehmung Thomas Manns in den ersten zwanzig Jahren nach seinem Tod erlebbar: Über den Köpfen der Besucher schweben Hörduschen, die Stimmen – etwa von Katia Mann und Theodor W. Adorno – über Thomas Mann vernehmen lassen. Auf den Bänken dokumentieren stilisierte Zeitungen die Affirmation der Selbstzeugnisse Thomas Manns, die dem Besucher auf großformatigen Fahnen, gespannt zwischen den gotischen Bogen, zu den Seiten begegnen. Thomas Mann, wie er gesehen werden wollte: repräsentativer Großschriftsteller in der Nachfolge Goethes, ironischer Erzähler, Leistungsethiker und Bürgerkünstler. Im Bereich der Kanzel zeigt eine Vitrine Exponate zum Jubiläumsjahr 1975 sowie den Versuch eines Denkmalsturzes durch polemische Thesen contra Thomas Mann, die an der Kanzel präsentiert werden: Thomas Mann als neurotischer Möchtegernrepräsentant und Schöpfer eines „maskulinen Werkes“.

Der Altarbereich markiert die Zäsur in der Wirkungsgeschichte des Autors: Er ist den Tagebuchveröffentlichungen und der Diskussion um den Thomas Mann gewidmet, der sich hier in seiner ganzen Widersprüchlichkeit offenbart: als Familienpatriarch mit homoerotischen Neigungen, als Egozentriker und verunsicherter Hypochonder. Gezeigt wird der Stein des Anstoßes auf dem Altar selbst: ein Tagebuch Thomas Manns mit dem letzten Eintrag wenige Tage vor seinem Tod.

Im unteren Chor sind Filme nach Thomas Manns Werken auf Flachbildschirmen zu sehen, Klassiker wie der „Tod in Venedig“ ebenso wie weniger populäre Produktionen. Thomas Mann in dieser Perspektive: als künstlerische Inspirationsquelle oder Ideenlieferant für ein stoffhungriges Kommerzkino. Das Interesse der Medien an der Familie Mann wird über Dia-Projektionen vermittelt. „Die Windsors der Deutschen“ ist die Station überschrieben, die zeigt, wie Forschung und Boulevard gleichermaßen die faszinierende Familie und ihr „Mythospotenzial“ entdeckten. Am Ende des Chores ist ein Kino installiert, in dem Breloers Film „Die Manns“ zu sehen ist.

Den politischen Streit zwischen Ost und West um Thomas Mann zeigt eine Projektion im südlichen Seitenschiff: Symbol kultureller Einheit einerseits, polarisierende Interpretation und Vereinnahmung auf den beiden Seiten des Eisernen Vorhangs andererseits – auch dies ein Kapitel aus dem „zweiten Leben“ Thomas Manns.

Die Urteile von Schriftstellern sind, von Schauspielern eingelesen, an Hörstelen, die über den Kirchenraum verteilt sind, abzurufen. An Lesepulten schließlich werden Marksteine der Thomas Mann-Forschung dokumentiert.

Die Ausstellung zeichnet damit 50 Jahre nach Thomas Manns Tod nicht das eine gültige Bild des Autors – denn das gibt es nicht, schon gar nicht über die Zeiten. Zu zeigen ist vielmehr: Der Leser, der sich heute dem Werke nähert, wird mit einer Vielzahl vorgeprägter Bilder konfrontiert – Interpretationen, die Zugänge bieten, Klischees, die den Blick verstellen. 2005 versucht diese Ausstellung eine erste Bilanz: Welche Bilder sind dies? Wie sind sie im Laufe der Jahrzehnte entstanden?

Wissenschaftliche Beachtung erfährt diese Fragestellung erstmals umfangreich auf der diesjährigen Tagung der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, die sich ebenfalls dem Thema „Thomas Mann-Bilder“ stellt. Die Tagung ist Bestandteil der Thomas Mann-Festwoche, die vom 7. bis 13. August in Lübeck stattfindet. Sie beginnt mit der Verleihung des Thomas Mann-Preises der Hansestadt Lübeck am 7. August an Walter Kempowski. Am selben Tag wird Barbara Hoffmeister ihr Buch „Das Randfigurenkabinett des Dr. Mann“ vorstellen. Das Buddenbrookhaus zeigt dazu eine Kabinettausstellung mit Zeichnungen von Robert Gernhardt. Am Montagabend stellen Thomas Scheuffelen und Karsten Blöcker das neue Spuren-Heft zu Christian Buddenbrook vor, Eva-Monika Turck referiert über Thomas Mann in der Fotografie. Eine Exkursion nach Rostock und Travemünde sowie Open Air Kino am Mittwochabend unterbrechen die Tagung der Gesellschaft am Dienstag und Donnerstag. An Thomas Manns Todestag am 12. August werden unter anderem Frido Mann und Klaus Harpprecht über Thomas Mann sprechen, Eckhardt Heftrich hält den Festvortrag.

Abschluss und Höhepunkt der Woche bildet der zentrale Festakt am Samstag, 13. August, um 16 Uhr in der Marienkirche, an dem Bundespräsident Horst Köhler teilnehmen wird. Marcel Reich-Ranicki wird den Festvortrag halten. Im Anschluss lädt das Buddenbrookhaus zum Literarischen Menü in die Katharinenkirche.

Holger Pils


Informationen zur Ausstellung: www.buddenbrookhaus.de

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